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Scandinavia ´22 Teil 2: Anreise in drei Tagen

Tag 1

Ich sitze planmäßig um 5 Uhr auf dem gepackten Rad, die ersten Tritte und Kilometer auf dem stillen, dunklen Marschbahndamm Richtung Innenstadt sind unsicher, das Gepäck fühlt sich zu schwer an, der Rucksack mit Zelt ebenso. Bis zum Hauptbahnhof klappt alles, und außer einer Verspätung von 20 Minuten in Flensburg kann der Formteil mit dem Zug schon einmal abgehakt werden.

Auf bekannten Wegen geht es aus Flensburg auf kleinen Wirtschaftswegen entlang der Grenze hinüber nach Dänemark. So richtig angekommen bin ich in meinem großen Solo-Abenteuer noch nicht, alles läuft schleppend, überraschenderweise der Kopf noch mehr als der Körper. Die mentale Last der nächsten Tage ist doch mehr als ich mir im warmen Wohnzimmer bei der Planung vorgestellt hatte. Dort sieht man immer nur die Kilometer, Zahlen, die grundsätzlich keine Bedeutung haben und die man gefühlt schon tausend Mal gefahren ist. Aber hier draußen auf der Straße, den Wind im Gesicht, ringsum sonnig-diesige Stimmung, hier ist alles anders. Hier wird mir mal wieder bewusst, das jeder Kilometer einer Reise erst gefahren werden muss, und nichts grundsätzlich von sich aus kommt. Für den Start reicht es immer weiter zu treten, die schweren Gefühle in den Hintergrund zu drängen bis sie irgendwann weggehen, denn das passiert immer.

Nach ein, zwei Stunden auf unfassbar ruhigen Straßen wird der Tritt langsam aber stetig besser, ich komme rein in den Genuss des Radfahrens. Nur der unstetige Gegenwind aus Nordwest, der mir die meiste Zeit direkt ins Gesicht bläst nervt ein bisschen, aber solange es trocken ist kann ich ganz gut damit leben. Es geht vorbei an niedlicher Heidelandschaft, schneeweißen Kirchen und kleinen Hügeln immer weiter hinein ins Radparadies Dänemark. Ich fange an mich zu erinnern warum ich so gerne hier bin, obwohl für viele Menschen die ausgesuchten Straßen einfach langweilig wirken würden. Eine bessere Flucht vor dem Alltag, den schlechten Nachrichten auf der ganzen Welt gibt es für mich kaum, der Frieden scheint greifbar nah wenn man einfach neben ein paar Kühen am Weidesrand steht und ihnen beim kauen zuschaut.

Am Ende des ersten Tages gelange ich zum ersten großen Highlight der geplanten Strecke, zwei von Hand betriebenen Seilzugfähren im Naturschutzgebiet Skjern Ådal am südöstlichen Ende des Ringkøbing Fjords. Der Fluss Skjern ist der wasserreichste Fluss Dänemarks, und verzweigt sich kurz vor der Mündung in den Fjord in ein Flussdelta beachtlicher Größe mit Feuchtwiesen, Seen und Sümpfen. Mittendrin befindet sich das Naturcenter des Naturschutzgebiets, in welchem die Vielfalt der Vogelarten, der Naturschutz und alles rund um die Landschaft dargestellt werden. Aufgrund des guten Vorankommens entschließe ich mich, einen kurzen Halt einzulegen und mir alles in Ruhe anzuschauen, an diesem Tag bin ich der einzige Gast, offen ist dennoch. Angst vor Vandalismus muss hier in Jütland augenscheinlich niemand haben. Bei der Weiterfahrt bekomme ich die streckenbedingten Anstrengungen ordentlich mit, der einzige Weg durch das Gebiet ist ein mit losem Schotter und Sand aufgeschütteter Wanderweg, unterbrochen nur durch die beiden Fähren. Ich kämpfe mich mit Gepäck langsam voran, und muss an die dünnen Rennradreifen denken, die ja noch ein paar Kilometer halten sollen und schon vor dem Start einige tausend Kilometer zurückgelegt haben. Für heute enttäuschen Sie mich nicht, trotz Zusatzgewicht klappt alles wie am Schnürchen, nur an den Fähren muss ich kurz alle Kräfte im Oberkörper zusammennehmen, um die schweren, für mehrere Personen konstruierten Ladeklappen auf- und wieder zu zu bekommen.

Anleitung Handseilfähre
Handseilfähre
Eine Fährfahrt die ist lustig 🙂

Nachdem ich wieder festen Boden unter den Füßen habe geht es auf dem Fjorden-Rundt Radweg weiter Richtung Tagesziel, die Stadt Ringkøbing und speziell zwei kleine Shelter direkt am Wasser will ich erreichen. Zwischendurch gibt es noch Abendessen an einem kleinen Supermarkt, in welchem zu der Jahreszeit mehr deutsche Feriengäste einkaufen als Einheimische. Vor dem Supermarkt gibt es Bänke und Steckdosen, für E-Bikes und für normale technische Geräte. Drei jugendliche Kurven auf ihren Rädern über den Parkplatz und trinken ein Bier, wollen wissen wo es hingeht und was ich mache. Die Zeit verfliegt schnell in solchen Pausen, und auch wenn ich die Ziele beim Erzählen etwas abschwäche n sind sie doch ordentlich erstaunt. Wir verabschieden uns, ich lehne das angebotene Bier ab und fahre die letzten Kilometer im Sonnenuntergang am Fjord entlang zu meiner Nachtbleibe.

Abendessen!

Am Shelter angekommen treffe ich drei Dänen, die gerade ihr Faltkanu aus dem Wasser ziehen. Es sind Großvater, Vater und Sohn, die zum Fischen den ganzen Tag auf dem Fjord waren. Sie erzählen mir von ihrem Urlaub während ich mein Innenzelt im Shelter aufstelle und meine wenigen Sachen auspacke. Der Kleine ist ganz traurig weil Sie nichts gefangen haben, also geht es mit seinem Vater noch einmal ans Wasser, ein letzter Versuch. Ich springe gleichzeitig einmal kurz rein um mich zu waschen und zu erfrischen, eine Wohltat nach dem langen Tag. Noch kurz mit Zuhause telefonieren, und dann wird es langsam dunkel und ich liege im Schlafsack. So undefiniert wie der Tag begonnen hat bin ich mit dem Verlauf doch sehr zufrieden, es waren wieder einige tolle Momente dabei. Und noch viel wichtiger: Ich bin nach 230 Kilometern angekommen im Urlaub, im Abenteuer.

Tag 2

Der heutige Tag beginnt etwas gestresster als gestern. Mein Plan sieht eine größere Fähre vor die in Thyborøn jede volle Stunde abfährt und die ich gerne um 10 Uhr erwischen möchte. Bis dahin sind jedoch 83 flache Kilometer zu fahren, und mit dem für mich typischen Zeitpuffer ist der Start auf sechs Uhr gesetzt. Schnell das Zelt ans Rad und alle Sachen in die Taschen geräumt, und schon gehts los. Die große Stadt schläft noch vor sich hin, und so kann ich die größeren Straßen aus der Stadt ohne Stress nutzen bis ich einige Kilometer später wieder abbiege auf die geliebten kleinen Straßen zwischen noch kleineren Dörfern. Zunächst geht es Richtung Nordwest, ich will so schnell wie möglich an die Küste kommen und die bei der Planung herbeigesehnte Küstenstraße erreichen. Seit der Transcimbrica und der DK 1000 bin ich fasziniert von diesem Abschnitt zwischen Nordsee und Nissum Fjord. Immer geradeaus, links die Dünen, rechts der Fjord, immer wieder sind Sandverwehungen auf Straße und Radweg, es herrscht eine himmlische Ruhe so früh am Morgen. Ich könnte ewig weiter auf dieser Straße fahren, vor allem weil es heute keinen Gegenwind hat und die Dünen den Seitenwind gut abschirmen. Selbst so früh ist es schon 20 Grad warm, dieser Sommer übertrifft sich mit Sonne und Trockenheit (leider) eins um andere Mal, für mich ist es in diesem Moment ein Segen.

An der Westküste immer geradeaus!

Pünktlich eine halbe Stunde vor Abfahrt der Fähre komme ich in Thyborøn am Fähranleger an und packe mein Frühstück aus. Gleichzeitig hole ich mir schon einmal die passenden Tickets am Automaten, alles klappt ohne Probleme. Im Bad will ich mir gerne Wasser in die leeren Trinkflaschen füllen, doch der Wasserhahn funktioniert aus irgendeinem Grund nicht. Die Fährangestellte, mit der ich mich kurz zuvor unterhalten habe, rennt auf einmal los und ruft mir zu dass ich warten soll. Fünf Minuten später kommt sie ganz außer Puste wieder an und hat drei abgepackte Flaschen Wasser dabei, die sie mir schenkt. Ich werde ganz verlegen und will erst ablehnen, ganz so viel Wasser brauche ich doch eigentlich nicht, aber sie lacht und freut sich unheimlich helfen zu können, so dass ich mit fast drei Litern Wasser auf die Fährfahrt gehe. Sie wünscht mir eine gute Reise, und verschwindet wieder in ihrem Büro. Fast zeitgleich kommt ein älterer Rennradfahrer an, der auch über die Fähre will. Wir gehen zusammen an Bord, und unterhalten uns ein bisschen über die Pläne. Er hat fast 50 Jahre im örtlichen Kieswerk gearbeitet, ist jetzt in Rente und hat Waden aus Stahl. Er will zu seiner Familie nach Aalborg fahren, etwa 120 Kilometer sind es, zu Besten Zeiten hat er dafür nur 3 Stunden gebraucht, heute werden es bei dem guten Wetter auch keine 4 werden. Nach dem Anlegen ist er schnell wieder weg und ich fahre langsam hinterher. Irgendwo im Nationalpark Thy ruft es auf einmal von hinten, und er kommt wieder angebraust, hat noch einen Bekannten im Ort getroffen. Er nimmt etwas raus, und ich kann mit dem Rückenwind annähernd seine Geschwindigkeit fahren, vor allem an den Hügeln habe ich doch kleine Vorteile. So komme ich doch noch in den Genuss seine Geschichten zu hören, er erzählt von alten Rennen in der Gegend, von großen Touren und allem drum und dran. Aber er interessiert sich auch für meine Pläne, und so bekommen wir fast eine Stunde auf den kleinen Wegen des Nationalparks rum ohne es zu bemerken.. Als wir auf eine größere Straße einbiegen und nicht mehr nebeneinander fahren können, verabschiedet er sich und ist mir nichts dir nichts über den nächsten Hügel verschwunden während ich froh bin etwas rausnehmen zu können.

Nationalpark Thy

Zwischendurch habe ich mit Martin aus der Schweiz geschrieben, er ist mit seinem Velomobil ebenso wie ich auf dem Weg nach Hirtshals zum Start des SBS, und hat ein Zimmer mit zwei Betten in Hune für heute gemietet. Er lädt mich ein nicht im Shelter zu schlafen sondern vorbeizukommen, und so ist das Tagesziel etwas klarer als zuvor. Nach Verlassen des Nationalparks komme ich durch Thisted, wo ich wieder etwas über die Transcimbrica nachdenken muss, und dann an den zweiten Highlight-Abschnitt des Tages, immer entlang des Thisted Bredning (einer Art Haff) und des Limfjords. Ein Damm, auf dem man zwischen Fjord und einem kleinen See entlangfahren kann, ist gesperrt, so dass ich um den kleinen See auf einer kleinen Schotterstraße herumfahren muss. Beachtlich sind die Fremdsprachenkenntnisse der Bauarbeiter: Mir wird einwandfrei erklärt wie ich auf die kleine Schotterstraße komme, wo und wie ich abzubiegen habe und wie weit das alles geht. Hervorragender Service! Später komme ich dann aber tatsächlich noch an eine Stelle an der sich links und rechts von mir wieder Wasser befindet, ein herrlicher Anblick! Auch der geschotterte Damm stört angesichts solcher Natur überhaupt nicht beim Fahren.

Der Limfjord im Norden Dänemarks

Etwas später brauche ich langsam eine Pause, und finde an einem Campingplatz einen netten Dänen, der mir den Kiosk aufschließt und mir ein Eis anbietet. Aber ich muss kein fertiges Stieleis nehmen, er hat richtige Kugeln und macht sie extra groß, dazu gibts eine gekühlte Cola. Draußen ist es irre warm geworden, und so unterhalten wir uns während ich das Eis im Schatten zu mir nehme etwas über die Gegend. Jetzt im Sommer ist hier alles voll von Feriengästen, sein Campingplatz quillt fast über, aber in wenigen Wochen wird sich das schon wieder ändern erzählt er. Dann kommen nur noch die Abenteurer, die Vogelbeobachter und die Radfahrer, die lieber außerhalb der Saison fahren. Wir verabschieden uns, er sagt bis Kristiansand ist es ja nicht mehr weit, die Fähre fährt doch dreimal am Tag. Ich belasse es dabei, dass wir einmal mit dem Rad rings ums Kattegat herum und auf dem Rückweg die Fähre von Kristiansand nach Hirtshals nehmen ist wahrscheinlich nicht so leicht zu erklären.

Eis!

Etwas später biege ich ab vom Fjord, hinein in die hügelige Landschaft Nordjütlands, mit Nadelbäumen und Heidelandschaft. Auch diese Strecken sind bekannt, ich genieße die Erinnerungen noch etwas und rolle durch die Nachmittagssonne nach Hune. Dort bin ich unschlüssig, als es plötzlich vom Supermarktparkplatz plötzlich laut „Ole“ ruft. Es ist Martin, der schon eingecheckt und geduscht ist. Wir laufen die letzten Meter zur Unterkunft, ich freue mich ihn in echt kennenzulernen, es ist herrlich. Dann bleibt nur noch auspacken, die Sachen einmal durchwaschen, aufhängen und trocknen lassen. Ich gehe auch noch kurz einkaufen, Nudeln und Getränke für den Abend. Wir lassen es uns gut gehen, Martin erzählt von seinen anderen Radreisen und von diesem und jenen, die Zeit geht schnell rum. Fürs Frühstück bleiben noch Nudeln übrig, und bevor es zu spät wird gehts auch schon ins Bett. Es war ein traumhafter Tag mit 220 Kilometern, einer Fährfahrt und vielen genialen Abschnitten in der Natur, dazu kommen die Begegnungen mit den Menschen. Bevor ich zu lange nachdenken kann bin ich auch schon eingeschlafen, während Martin noch seinen Blog von unterwegs schreibt.

Tag 3

Am Pausentag wache ich ausnahmsweise später auf, um 8 klingelt der Wecker. Vor dem Fenster höre ich den starken Regen fallen, und drehe mich noch einmal um. Eine Stunde später kann ich mich der Realität nicht mehr verschließen, und das Regenradar sagt eine Lücke kurz darauf voraus. Nach ein paar Nudeln von Gestern und schnellem Zusammenpacken verabschiede ich mich fürs Erste von Martin und mache mich auf die heute geplanten 50 Restkilometer bis Hirtshals. Die Straßen sind nass, teilweise steht das Wasser auf den Radwegen, aber von oben kommt vorerst nichts mehr. Auf bekannten Wegen geht es über hügelige Straßen Richtung Rubjerg Knude, einer bis zu 70 Meter über dem Meer aufragenden Wanderdüne, eine einmalige Naturschönheit Jütlands. Oben befindet sich der bekannte Rubjerg Knude Fyr, ein Leuchtturm, der im Jahr 1900 direkt auf der damals nur 5-7 Meter hohen Düne gebaut wurde und inzwischen 70 Meter von der Küste ins Inland versetzt wurde, um dem unvermeidlichen Sturz ins Meer zu entgehen. Oben fängt es langsam wieder an zu regnen, so dass ich mich auf die letzten Kilometer mache.

Bis Hirtshals passiert nicht mehr viel, die Regensachen dürfen noch ein bisschen zeigen warum sie dabei sind und kurz darauf stehe ich vorm Skaga Hotel, in welchem der Start am nächsten Tag erfolgen wird. Ich setze mich fürs Erste auf die überdachte Terrasse und schaue auf den Parkplatz. Zwei weitere Räder sind schon zu sehen, die meisten kommen aber erst in einigen Stunden an. Eine halbe Stunde später traue ich mich an die Rezeption und bekomme meinen Schlüssel schon deutlich vor der angekündigten Eincheck-Zeit ausgehändigt, so dass ich es mir in meinem Zimmer gemütlich machen kann. Warm duschen, Sachen zum trocknen ausbreiten und dann wieder runter um mich mit den ankommenden Radfahrern zu unterhalten, die Zeit vergeht schnell.

Martin kommt zwei Stunden später an, er hat noch ein bisschen im Motel gewartet und die Landschaft genossen, im Velomobil wird man halt nicht so nass. Kurz vor 2 kommen die Organisatoren des Brevets, ich erkenne Jan aus der Kopenhagener Ecke wieder, bei dem ich im Januar das Happy New Year Brevet nicht beendet habe, er freut sich ebenfalls mich zu sehen. Außerdem lerne ich Hamid und seine Frau kennen, beides Amerikaner. Er fährt alle Superbrevets die es in einem Jahr so gibt, und sie mit dem Auto immer zu den Tageszielen hinterher. Pünktlich um 16 Uhr fängt das angesetzte Briefing an, es wird ein kleiner Vortrag über die Eigenheiten des Radfahrens in den skandinavischen Ländern, über die Nutzung der Fähren auf der Strecke und die Unterbringung in den Hotels auf den Zwischenzielen erläutert. Vieles davon hat Jan mir im Januar schon erklärt, so dass ich ganz entspannt bin. Nach dem organisatorischen Teil folgt noch die Abnahme des Rads sowie die Aushändigung des Trikots, und dann das Abendessen. Da es am nächsten Tag um 4 Uhr Frühstück geben soll verabschieden sich alle früh, ich telefoniere noch kurz mit Carola und dann gehe auch ich ins Bett. Die Sachen für morgen sind gepackt, die Taktik klar: Ab morgen früh um 5 wird die nächsten vier Tage Rad gefahren, viel Rad.

Die noch unbefleckte Brevetkarte

600er Brevet Hamburg, Couple-Edition

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ sagte einmal Hermann Hesse, und so stehen Carola und ich an einem lauen Freitagabend kurz vor 19 Uhr in Rothenburgsort am Start des diesjährigen Hamburger 600er Brevetsund tauchen ein in die verrückte, wunderbare Welt des Randonnierens. Es sind bekannte Gesichter am Start zu sehen und eine leichte Aufregung zu spüren, selbst die alten Hasen sind immer ein wenig aufgeregt, niemand kann vorhersagen was in den folgenden, bis zu 40 Stunden, alles passieren wird.

Kurz vorm Start: Martin und Carola sitzen als letzte im Chaplin, Martin mit einer Portion Nudel-Spargel Auflauf, Carola mit Schokokuchen und Sahne.

Ich selbst bekomme vor dem Start nichts mehr runter, Abendstart hatte ich seit längerem nicht mehr und bin dementsprechend ordentlich nervös.
Zudem sei gleich am Anfang gesagt: Ich bin nicht überzeugt von der Organisation bzw. Planung des 600ers. Die Strecke ist aus meiner Sicht lieblos geplant, es ist keine Rundtour sondern ein Hin und zurück über viele Kilometer einfach auf der gleichen Strecke und es wird wenig wert auf Natur und Ruhe gelegt. Hauptsache auf glatten „schnellen“ Straßen nach Süden und zurück, möglichst keinen Kilometer zu viel auf dem Rad scheint die Idee gewesen zu sein, der Track hat dementsprechend genau 601 Kilometer. Ich versuche mich mehr oder weniger damit zu arrangieren, Carola musste sich im Vorfeld und auch später im Verlauf des Brevets einiges anhören. Nun aber zum Brevet:

19.00 Uhr fällt der Startschuss, wir hängen uns an die alten Hasen und über Hauptdeich und Zollenspieker geht es rasant mit deutlich über 30kmh gen Westen. Wir sammeln unterwegs noch die Startgruppe des Kieler USC auf, nette Menschen und immer was zu schnacken. Am Ende sind wir in der Gruppe nahezu 30 Mann, auf Anleitung der Radrennfahrer (im Gegensatz zu denen ich ja ein Rennradfahrer bin 🙂 ) wird gekreiselt. Man ist also 2 km vorn und dann die nächste Stunde entspannt im Peloton unterwegs. Die ersten 100 Kilometer verfliegen wie nichts, gegen 22.40 Uhr erreichen wir die Kontrolle in Uelzen, es gibt Wasser und wir essen jeweils eine Banane. Martin hatte unterwegs einen Platten als ich gerade in der Führung war und ist rausgefallen, er fährt mit einer kleineren Gruppe hinter uns. Carola und ich entscheiden das wir erstmal alleine in die Nacht fahren, inzwischen ist es „richtig“ dunkel. Einmal überholt uns das Kieler 7er Gespann und wir hängen uns dran, nach einer Pinkelpause entscheiden wir jedoch sie fahren zu lassen. Obwohl sie deutlich schneller fahren sehen wir sie bis zur letzten Kontrolle immer wieder am Straßenrand und werfen uns gegenseitig aufmunternde Sprüche zu.

Im Kieler D-Zug durch die frühe Nacht
Erste Kontrolle in Uelzen, Tankstelle

Nach dem schnellen Start ist die gemütliche Fahrt durch die Nacht Richtung Wernigerode sehr angenehm, wir schnacken ein bisschen und versuchen die langweiligen Geraden nicht zu lang werden zu lassen. An der Tanke in Vorsfelde unterhalte ich mich mit dem örtlichen „Platzwart“ gegen 3 Uhr nachts, während Carola ihren warmen Kaffee trinkt. Ich mag die Begegnungen mit Menschen unterwegs ja häufig sehr und Carola ist amüsiert über das Lallen und die seltsamen Themen.
Das nächste Highlight ist der Elm, ab Königslutter winden wir uns die ersten Höhenmeter hinauf, gut fahrbar und auf der anderen Seite ein toller Blick auf die Lichter der umliegenden Gemeinden.


Gegen 5 Uhr erreichen wir Wernigerode weit vor unserem Zeitplan, an der Kontrolle treffen wir wieder unzählige Randonneure, auch die drei Rapha-Westlinge werden wir ab hier immer und immer wieder sehen.
Ab jetzt beginnt der spannende Teil der Strecke, von Wernigerode über Braunlage auf den Wurmberg, dann über St Andreasberg Richtung Clausthal Zellerfeld und über Wolfshagen wieder raus aus dem Harz. Ab hier begann Recht unspektakulär auch unser Kampf gegen die Zeit, die wir uns vorgestellt bzw. ich im Hinterkopf hatte. Der Anstieg Richtung Schierke lässt sich super fahren, wir haben abgesprochen das ich an der Bergen vorfahren kann und oben warte. Das lässt uns als Team genug Freiraum, und sorgt für gute Stimmung auf den gemeinsamen Abschnitten. Strava sagt das ich meine persönlichen Bestzeiten an vielen Anstiegen eingestellt habe, Berge machen einfach Spaß. Oben in Schierke treffe ich noch Gerd, seines Zeichens einer der Organisatoren der sächsischen Brevets, der klassische Bennewitzer 600er findet am selben Wochenende statt, Zufälle gibt’s. Dann kommt das Elend, aber so schnell wie es gekommen sind wir auch schon durchgefahren (schlechter Wortwitz!).

Der Anstieg zum Wurmberg hält was versprochen wurde, erst sehr gut zu fahren, der letzte Kilometer dann brutal steil, ich sehe vor mir die Randonneure laufen, will den Fuß nicht vom Pedal nehmen und schaffe es irgendwie oben anzukommen. Und auch Carola ist richtig gut drauf, holt sich die Dreiergruppe noch und ist kurz nach mir oben, so als Flachlandfahrer kann man da ordentlich stolz sein! Das Selfie ist dann etwas gequält, gehört aber dazu.

Kontrollselfie 🙂

Wer denkt “ jetzt nur noch bergab“ vertut sich, es folgen Anstiege um Anstiege, die Harzhochstraße ist dann die Krönung der Streckenführung mit Mottoradbanden, Gegenwind und Rasern, die Motivation ist endgültig dahin. In Clausthal-Zellerfeld machen wir eine lange Pause, vorher habe ich meine Powerbank noch einem Randonneur geliehen den wir an den Kontrollen immer gesehen haben, er hat keinen Strom dabei und sein Handy ist fast leer. Ich bekomme sie an der nächsten Kontrolle von der Tankstellenfrau zurück. Aus dem Harz raus läuft es etwas besser, aber die Beine scheinen hinüber zu sein, die Kilometer gehen trotz Rückenwind mäßig voran, die Sonne knallt und die Stimmung ist gedrückt. Wir werden auch weit in die zweite Nacht kommen, das muss niemand aussprechen, und das Schlafdefizit ist schon jetzt zu hoch. In einem Dorf finden wir einen Sportplatz mit tollen Trainerbänken, gemauert und überdacht, kühl und schattig. Dort schläft Carola erstmal 40 Minuten,die Augen fallen ihr direkt mit dem Absteigen zu. Ich habe wie immer Probleme beim Powernapping und mache die Augen im Sitzen zu, es hilft auch ein wenig.

Danach geht es besser voran, ich höre mir AC/DC an und ab geht’s zurück über den Elm zur vorletzten Kontrolle, da zwischen 417 und 600 keine mehr vorgesehen ist. Dort gibt’s noch einmal das volle Programm, Eis und Currywurst, Cola und Süßes, Unterhaltung mit den Raphawesten. Die beiden Mädels wollen eine Stunde am Autohof schlafen, und dann ordentlich Gas geben, wir entscheiden uns für stetiges Rollen und verabschieden uns. Auf den Straßen die nachts wenigstens gut zu fahren waren, da keine Radwegnutzung nötig und kaum Autos ,ist es jetzt voller Raser, schlechte Radwege und macht kaum Spaß. Bei Hankensbüttel bei Kilometer 480 ist die letzte Verpflegung bis ins Ziel möglich, wir sind kurz vor Ende der Schließzeit dort und kaufen genug essen für drei Tage, welches alles wieder Zuhause landet, aber wir wären im Fall der Fälle nicht verhungert. Die Strecke nach Unterlüß ist ekliges Geläuf, 20 Kilometer durch den Wald, baumgefährdete Raser in einer Tour und einfach keine Lust. Carola überlegt sich in den Zug zu setzen, die Aussicht auf die letzten 100km über diese Strecke ist hart. Ich leiste Überzeugungsarbeit, obwohl selbst ordentlich angekratzt, wir streiten uns ein bisschen und raufen uns dann zusammen, auch das gehört zu den Emotionen dazu, wenn alles glatt geht wäre es ja keine Prüfung. In Unterlüß fahren zum Glück sowieso keine Züge nach HH, egal ob Samstagnacht oder sonstwann. Bis Amelinghausen sind es jetzt 40 Kilometer, die sich lang durch die sonst doch eigentlich hübsche Kulturlandschaft der Heide ziehen, im Restlicht des Tages sieht man noch ein wenig der Umgebung, dann wird es richtig dunkel. Die Müdigkeit schlägt jetzt richtig zu, wir retten uns mit Cola, Gel und Gesprächen bis zur Sparkasse. Dort ist uns alles egal, obwohl es erst 24 Uhr ist legen wir uns unter die tolle Infrastruktur des großen Vorraums und schlafen nochmal 30 Minuten. Carola nennt sich ab diesem Zeitpunkt Queen of Powernapping, nachdem sie erneut beim Absteigen direkt in die Schlafposition übergeht und keine Sekunde verliert. Nach der Pause läuft es wieder etwas besser, die Aussicht auf bekannte Orte und die Einfahrt nach Hamburg heben die Stimmung, die letzten Kilometer in der nun zum zweiten Mal aufgehenden Sonne sind ein absoluter Genuss. Nach guten 33 Stunden sind wir zu Zweit im Ziel, sehr erschöpft, vor allem mental, aber glücklich und zufrieden. Solche Momente mit dem wichtigsten Menschen im Leben zu teilen, aber auch die „Entbehrungen“, das geerdet werden und zu sehen zu welchen Leistungen der Körper und Geist in der Lage ist… Es war eigentlich eine tolle Tour!

Die ausgefüllte Brevetkarte
Der Morgen danach: Finish!