„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ sagte einmal Hermann Hesse, und so stehen Carola und ich an einem lauen Freitagabend kurz vor 19 Uhr in Rothenburgsort am Start des diesjährigen Hamburger 600er Brevetsund tauchen ein in die verrückte, wunderbare Welt des Randonnierens. Es sind bekannte Gesichter am Start zu sehen und eine leichte Aufregung zu spüren, selbst die alten Hasen sind immer ein wenig aufgeregt, niemand kann vorhersagen was in den folgenden, bis zu 40 Stunden, alles passieren wird.

Kurz vorm Start: Martin und Carola sitzen als letzte im Chaplin, Martin mit einer Portion Nudel-Spargel Auflauf, Carola mit Schokokuchen und Sahne.

Ich selbst bekomme vor dem Start nichts mehr runter, Abendstart hatte ich seit längerem nicht mehr und bin dementsprechend ordentlich nervös.
Zudem sei gleich am Anfang gesagt: Ich bin nicht überzeugt von der Organisation bzw. Planung des 600ers. Die Strecke ist aus meiner Sicht lieblos geplant, es ist keine Rundtour sondern ein Hin und zurück über viele Kilometer einfach auf der gleichen Strecke und es wird wenig wert auf Natur und Ruhe gelegt. Hauptsache auf glatten „schnellen“ Straßen nach Süden und zurück, möglichst keinen Kilometer zu viel auf dem Rad scheint die Idee gewesen zu sein, der Track hat dementsprechend genau 601 Kilometer. Ich versuche mich mehr oder weniger damit zu arrangieren, Carola musste sich im Vorfeld und auch später im Verlauf des Brevets einiges anhören. Nun aber zum Brevet:

19.00 Uhr fällt der Startschuss, wir hängen uns an die alten Hasen und über Hauptdeich und Zollenspieker geht es rasant mit deutlich über 30kmh gen Westen. Wir sammeln unterwegs noch die Startgruppe des Kieler USC auf, nette Menschen und immer was zu schnacken. Am Ende sind wir in der Gruppe nahezu 30 Mann, auf Anleitung der Radrennfahrer (im Gegensatz zu denen ich ja ein Rennradfahrer bin 🙂 ) wird gekreiselt. Man ist also 2 km vorn und dann die nächste Stunde entspannt im Peloton unterwegs. Die ersten 100 Kilometer verfliegen wie nichts, gegen 22.40 Uhr erreichen wir die Kontrolle in Uelzen, es gibt Wasser und wir essen jeweils eine Banane. Martin hatte unterwegs einen Platten als ich gerade in der Führung war und ist rausgefallen, er fährt mit einer kleineren Gruppe hinter uns. Carola und ich entscheiden das wir erstmal alleine in die Nacht fahren, inzwischen ist es „richtig“ dunkel. Einmal überholt uns das Kieler 7er Gespann und wir hängen uns dran, nach einer Pinkelpause entscheiden wir jedoch sie fahren zu lassen. Obwohl sie deutlich schneller fahren sehen wir sie bis zur letzten Kontrolle immer wieder am Straßenrand und werfen uns gegenseitig aufmunternde Sprüche zu.

Im Kieler D-Zug durch die frühe Nacht
Erste Kontrolle in Uelzen, Tankstelle

Nach dem schnellen Start ist die gemütliche Fahrt durch die Nacht Richtung Wernigerode sehr angenehm, wir schnacken ein bisschen und versuchen die langweiligen Geraden nicht zu lang werden zu lassen. An der Tanke in Vorsfelde unterhalte ich mich mit dem örtlichen „Platzwart“ gegen 3 Uhr nachts, während Carola ihren warmen Kaffee trinkt. Ich mag die Begegnungen mit Menschen unterwegs ja häufig sehr und Carola ist amüsiert über das Lallen und die seltsamen Themen.
Das nächste Highlight ist der Elm, ab Königslutter winden wir uns die ersten Höhenmeter hinauf, gut fahrbar und auf der anderen Seite ein toller Blick auf die Lichter der umliegenden Gemeinden.


Gegen 5 Uhr erreichen wir Wernigerode weit vor unserem Zeitplan, an der Kontrolle treffen wir wieder unzählige Randonneure, auch die drei Rapha-Westlinge werden wir ab hier immer und immer wieder sehen.
Ab jetzt beginnt der spannende Teil der Strecke, von Wernigerode über Braunlage auf den Wurmberg, dann über St Andreasberg Richtung Clausthal Zellerfeld und über Wolfshagen wieder raus aus dem Harz. Ab hier begann Recht unspektakulär auch unser Kampf gegen die Zeit, die wir uns vorgestellt bzw. ich im Hinterkopf hatte. Der Anstieg Richtung Schierke lässt sich super fahren, wir haben abgesprochen das ich an der Bergen vorfahren kann und oben warte. Das lässt uns als Team genug Freiraum, und sorgt für gute Stimmung auf den gemeinsamen Abschnitten. Strava sagt das ich meine persönlichen Bestzeiten an vielen Anstiegen eingestellt habe, Berge machen einfach Spaß. Oben in Schierke treffe ich noch Gerd, seines Zeichens einer der Organisatoren der sächsischen Brevets, der klassische Bennewitzer 600er findet am selben Wochenende statt, Zufälle gibt’s. Dann kommt das Elend, aber so schnell wie es gekommen sind wir auch schon durchgefahren (schlechter Wortwitz!).

Der Anstieg zum Wurmberg hält was versprochen wurde, erst sehr gut zu fahren, der letzte Kilometer dann brutal steil, ich sehe vor mir die Randonneure laufen, will den Fuß nicht vom Pedal nehmen und schaffe es irgendwie oben anzukommen. Und auch Carola ist richtig gut drauf, holt sich die Dreiergruppe noch und ist kurz nach mir oben, so als Flachlandfahrer kann man da ordentlich stolz sein! Das Selfie ist dann etwas gequält, gehört aber dazu.

Kontrollselfie 🙂

Wer denkt “ jetzt nur noch bergab“ vertut sich, es folgen Anstiege um Anstiege, die Harzhochstraße ist dann die Krönung der Streckenführung mit Mottoradbanden, Gegenwind und Rasern, die Motivation ist endgültig dahin. In Clausthal-Zellerfeld machen wir eine lange Pause, vorher habe ich meine Powerbank noch einem Randonneur geliehen den wir an den Kontrollen immer gesehen haben, er hat keinen Strom dabei und sein Handy ist fast leer. Ich bekomme sie an der nächsten Kontrolle von der Tankstellenfrau zurück. Aus dem Harz raus läuft es etwas besser, aber die Beine scheinen hinüber zu sein, die Kilometer gehen trotz Rückenwind mäßig voran, die Sonne knallt und die Stimmung ist gedrückt. Wir werden auch weit in die zweite Nacht kommen, das muss niemand aussprechen, und das Schlafdefizit ist schon jetzt zu hoch. In einem Dorf finden wir einen Sportplatz mit tollen Trainerbänken, gemauert und überdacht, kühl und schattig. Dort schläft Carola erstmal 40 Minuten,die Augen fallen ihr direkt mit dem Absteigen zu. Ich habe wie immer Probleme beim Powernapping und mache die Augen im Sitzen zu, es hilft auch ein wenig.

Danach geht es besser voran, ich höre mir AC/DC an und ab geht’s zurück über den Elm zur vorletzten Kontrolle, da zwischen 417 und 600 keine mehr vorgesehen ist. Dort gibt’s noch einmal das volle Programm, Eis und Currywurst, Cola und Süßes, Unterhaltung mit den Raphawesten. Die beiden Mädels wollen eine Stunde am Autohof schlafen, und dann ordentlich Gas geben, wir entscheiden uns für stetiges Rollen und verabschieden uns. Auf den Straßen die nachts wenigstens gut zu fahren waren, da keine Radwegnutzung nötig und kaum Autos ,ist es jetzt voller Raser, schlechte Radwege und macht kaum Spaß. Bei Hankensbüttel bei Kilometer 480 ist die letzte Verpflegung bis ins Ziel möglich, wir sind kurz vor Ende der Schließzeit dort und kaufen genug essen für drei Tage, welches alles wieder Zuhause landet, aber wir wären im Fall der Fälle nicht verhungert. Die Strecke nach Unterlüß ist ekliges Geläuf, 20 Kilometer durch den Wald, baumgefährdete Raser in einer Tour und einfach keine Lust. Carola überlegt sich in den Zug zu setzen, die Aussicht auf die letzten 100km über diese Strecke ist hart. Ich leiste Überzeugungsarbeit, obwohl selbst ordentlich angekratzt, wir streiten uns ein bisschen und raufen uns dann zusammen, auch das gehört zu den Emotionen dazu, wenn alles glatt geht wäre es ja keine Prüfung. In Unterlüß fahren zum Glück sowieso keine Züge nach HH, egal ob Samstagnacht oder sonstwann. Bis Amelinghausen sind es jetzt 40 Kilometer, die sich lang durch die sonst doch eigentlich hübsche Kulturlandschaft der Heide ziehen, im Restlicht des Tages sieht man noch ein wenig der Umgebung, dann wird es richtig dunkel. Die Müdigkeit schlägt jetzt richtig zu, wir retten uns mit Cola, Gel und Gesprächen bis zur Sparkasse. Dort ist uns alles egal, obwohl es erst 24 Uhr ist legen wir uns unter die tolle Infrastruktur des großen Vorraums und schlafen nochmal 30 Minuten. Carola nennt sich ab diesem Zeitpunkt Queen of Powernapping, nachdem sie erneut beim Absteigen direkt in die Schlafposition übergeht und keine Sekunde verliert. Nach der Pause läuft es wieder etwas besser, die Aussicht auf bekannte Orte und die Einfahrt nach Hamburg heben die Stimmung, die letzten Kilometer in der nun zum zweiten Mal aufgehenden Sonne sind ein absoluter Genuss. Nach guten 33 Stunden sind wir zu Zweit im Ziel, sehr erschöpft, vor allem mental, aber glücklich und zufrieden. Solche Momente mit dem wichtigsten Menschen im Leben zu teilen, aber auch die „Entbehrungen“, das geerdet werden und zu sehen zu welchen Leistungen der Körper und Geist in der Lage ist… Es war eigentlich eine tolle Tour!

Die ausgefüllte Brevetkarte
Der Morgen danach: Finish!