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Scandinavia ´22 Teil 2: Anreise in drei Tagen

Tag 1

Ich sitze planmäßig um 5 Uhr auf dem gepackten Rad, die ersten Tritte und Kilometer auf dem stillen, dunklen Marschbahndamm Richtung Innenstadt sind unsicher, das Gepäck fühlt sich zu schwer an, der Rucksack mit Zelt ebenso. Bis zum Hauptbahnhof klappt alles, und außer einer Verspätung von 20 Minuten in Flensburg kann der Formteil mit dem Zug schon einmal abgehakt werden.

Auf bekannten Wegen geht es aus Flensburg auf kleinen Wirtschaftswegen entlang der Grenze hinüber nach Dänemark. So richtig angekommen bin ich in meinem großen Solo-Abenteuer noch nicht, alles läuft schleppend, überraschenderweise der Kopf noch mehr als der Körper. Die mentale Last der nächsten Tage ist doch mehr als ich mir im warmen Wohnzimmer bei der Planung vorgestellt hatte. Dort sieht man immer nur die Kilometer, Zahlen, die grundsätzlich keine Bedeutung haben und die man gefühlt schon tausend Mal gefahren ist. Aber hier draußen auf der Straße, den Wind im Gesicht, ringsum sonnig-diesige Stimmung, hier ist alles anders. Hier wird mir mal wieder bewusst, das jeder Kilometer einer Reise erst gefahren werden muss, und nichts grundsätzlich von sich aus kommt. Für den Start reicht es immer weiter zu treten, die schweren Gefühle in den Hintergrund zu drängen bis sie irgendwann weggehen, denn das passiert immer.

Nach ein, zwei Stunden auf unfassbar ruhigen Straßen wird der Tritt langsam aber stetig besser, ich komme rein in den Genuss des Radfahrens. Nur der unstetige Gegenwind aus Nordwest, der mir die meiste Zeit direkt ins Gesicht bläst nervt ein bisschen, aber solange es trocken ist kann ich ganz gut damit leben. Es geht vorbei an niedlicher Heidelandschaft, schneeweißen Kirchen und kleinen Hügeln immer weiter hinein ins Radparadies Dänemark. Ich fange an mich zu erinnern warum ich so gerne hier bin, obwohl für viele Menschen die ausgesuchten Straßen einfach langweilig wirken würden. Eine bessere Flucht vor dem Alltag, den schlechten Nachrichten auf der ganzen Welt gibt es für mich kaum, der Frieden scheint greifbar nah wenn man einfach neben ein paar Kühen am Weidesrand steht und ihnen beim kauen zuschaut.

Am Ende des ersten Tages gelange ich zum ersten großen Highlight der geplanten Strecke, zwei von Hand betriebenen Seilzugfähren im Naturschutzgebiet Skjern Ådal am südöstlichen Ende des Ringkøbing Fjords. Der Fluss Skjern ist der wasserreichste Fluss Dänemarks, und verzweigt sich kurz vor der Mündung in den Fjord in ein Flussdelta beachtlicher Größe mit Feuchtwiesen, Seen und Sümpfen. Mittendrin befindet sich das Naturcenter des Naturschutzgebiets, in welchem die Vielfalt der Vogelarten, der Naturschutz und alles rund um die Landschaft dargestellt werden. Aufgrund des guten Vorankommens entschließe ich mich, einen kurzen Halt einzulegen und mir alles in Ruhe anzuschauen, an diesem Tag bin ich der einzige Gast, offen ist dennoch. Angst vor Vandalismus muss hier in Jütland augenscheinlich niemand haben. Bei der Weiterfahrt bekomme ich die streckenbedingten Anstrengungen ordentlich mit, der einzige Weg durch das Gebiet ist ein mit losem Schotter und Sand aufgeschütteter Wanderweg, unterbrochen nur durch die beiden Fähren. Ich kämpfe mich mit Gepäck langsam voran, und muss an die dünnen Rennradreifen denken, die ja noch ein paar Kilometer halten sollen und schon vor dem Start einige tausend Kilometer zurückgelegt haben. Für heute enttäuschen Sie mich nicht, trotz Zusatzgewicht klappt alles wie am Schnürchen, nur an den Fähren muss ich kurz alle Kräfte im Oberkörper zusammennehmen, um die schweren, für mehrere Personen konstruierten Ladeklappen auf- und wieder zu zu bekommen.

Anleitung Handseilfähre
Handseilfähre
Eine Fährfahrt die ist lustig 🙂

Nachdem ich wieder festen Boden unter den Füßen habe geht es auf dem Fjorden-Rundt Radweg weiter Richtung Tagesziel, die Stadt Ringkøbing und speziell zwei kleine Shelter direkt am Wasser will ich erreichen. Zwischendurch gibt es noch Abendessen an einem kleinen Supermarkt, in welchem zu der Jahreszeit mehr deutsche Feriengäste einkaufen als Einheimische. Vor dem Supermarkt gibt es Bänke und Steckdosen, für E-Bikes und für normale technische Geräte. Drei jugendliche Kurven auf ihren Rädern über den Parkplatz und trinken ein Bier, wollen wissen wo es hingeht und was ich mache. Die Zeit verfliegt schnell in solchen Pausen, und auch wenn ich die Ziele beim Erzählen etwas abschwäche n sind sie doch ordentlich erstaunt. Wir verabschieden uns, ich lehne das angebotene Bier ab und fahre die letzten Kilometer im Sonnenuntergang am Fjord entlang zu meiner Nachtbleibe.

Abendessen!

Am Shelter angekommen treffe ich drei Dänen, die gerade ihr Faltkanu aus dem Wasser ziehen. Es sind Großvater, Vater und Sohn, die zum Fischen den ganzen Tag auf dem Fjord waren. Sie erzählen mir von ihrem Urlaub während ich mein Innenzelt im Shelter aufstelle und meine wenigen Sachen auspacke. Der Kleine ist ganz traurig weil Sie nichts gefangen haben, also geht es mit seinem Vater noch einmal ans Wasser, ein letzter Versuch. Ich springe gleichzeitig einmal kurz rein um mich zu waschen und zu erfrischen, eine Wohltat nach dem langen Tag. Noch kurz mit Zuhause telefonieren, und dann wird es langsam dunkel und ich liege im Schlafsack. So undefiniert wie der Tag begonnen hat bin ich mit dem Verlauf doch sehr zufrieden, es waren wieder einige tolle Momente dabei. Und noch viel wichtiger: Ich bin nach 230 Kilometern angekommen im Urlaub, im Abenteuer.

Tag 2

Der heutige Tag beginnt etwas gestresster als gestern. Mein Plan sieht eine größere Fähre vor die in Thyborøn jede volle Stunde abfährt und die ich gerne um 10 Uhr erwischen möchte. Bis dahin sind jedoch 83 flache Kilometer zu fahren, und mit dem für mich typischen Zeitpuffer ist der Start auf sechs Uhr gesetzt. Schnell das Zelt ans Rad und alle Sachen in die Taschen geräumt, und schon gehts los. Die große Stadt schläft noch vor sich hin, und so kann ich die größeren Straßen aus der Stadt ohne Stress nutzen bis ich einige Kilometer später wieder abbiege auf die geliebten kleinen Straßen zwischen noch kleineren Dörfern. Zunächst geht es Richtung Nordwest, ich will so schnell wie möglich an die Küste kommen und die bei der Planung herbeigesehnte Küstenstraße erreichen. Seit der Transcimbrica und der DK 1000 bin ich fasziniert von diesem Abschnitt zwischen Nordsee und Nissum Fjord. Immer geradeaus, links die Dünen, rechts der Fjord, immer wieder sind Sandverwehungen auf Straße und Radweg, es herrscht eine himmlische Ruhe so früh am Morgen. Ich könnte ewig weiter auf dieser Straße fahren, vor allem weil es heute keinen Gegenwind hat und die Dünen den Seitenwind gut abschirmen. Selbst so früh ist es schon 20 Grad warm, dieser Sommer übertrifft sich mit Sonne und Trockenheit (leider) eins um andere Mal, für mich ist es in diesem Moment ein Segen.

An der Westküste immer geradeaus!

Pünktlich eine halbe Stunde vor Abfahrt der Fähre komme ich in Thyborøn am Fähranleger an und packe mein Frühstück aus. Gleichzeitig hole ich mir schon einmal die passenden Tickets am Automaten, alles klappt ohne Probleme. Im Bad will ich mir gerne Wasser in die leeren Trinkflaschen füllen, doch der Wasserhahn funktioniert aus irgendeinem Grund nicht. Die Fährangestellte, mit der ich mich kurz zuvor unterhalten habe, rennt auf einmal los und ruft mir zu dass ich warten soll. Fünf Minuten später kommt sie ganz außer Puste wieder an und hat drei abgepackte Flaschen Wasser dabei, die sie mir schenkt. Ich werde ganz verlegen und will erst ablehnen, ganz so viel Wasser brauche ich doch eigentlich nicht, aber sie lacht und freut sich unheimlich helfen zu können, so dass ich mit fast drei Litern Wasser auf die Fährfahrt gehe. Sie wünscht mir eine gute Reise, und verschwindet wieder in ihrem Büro. Fast zeitgleich kommt ein älterer Rennradfahrer an, der auch über die Fähre will. Wir gehen zusammen an Bord, und unterhalten uns ein bisschen über die Pläne. Er hat fast 50 Jahre im örtlichen Kieswerk gearbeitet, ist jetzt in Rente und hat Waden aus Stahl. Er will zu seiner Familie nach Aalborg fahren, etwa 120 Kilometer sind es, zu Besten Zeiten hat er dafür nur 3 Stunden gebraucht, heute werden es bei dem guten Wetter auch keine 4 werden. Nach dem Anlegen ist er schnell wieder weg und ich fahre langsam hinterher. Irgendwo im Nationalpark Thy ruft es auf einmal von hinten, und er kommt wieder angebraust, hat noch einen Bekannten im Ort getroffen. Er nimmt etwas raus, und ich kann mit dem Rückenwind annähernd seine Geschwindigkeit fahren, vor allem an den Hügeln habe ich doch kleine Vorteile. So komme ich doch noch in den Genuss seine Geschichten zu hören, er erzählt von alten Rennen in der Gegend, von großen Touren und allem drum und dran. Aber er interessiert sich auch für meine Pläne, und so bekommen wir fast eine Stunde auf den kleinen Wegen des Nationalparks rum ohne es zu bemerken.. Als wir auf eine größere Straße einbiegen und nicht mehr nebeneinander fahren können, verabschiedet er sich und ist mir nichts dir nichts über den nächsten Hügel verschwunden während ich froh bin etwas rausnehmen zu können.

Nationalpark Thy

Zwischendurch habe ich mit Martin aus der Schweiz geschrieben, er ist mit seinem Velomobil ebenso wie ich auf dem Weg nach Hirtshals zum Start des SBS, und hat ein Zimmer mit zwei Betten in Hune für heute gemietet. Er lädt mich ein nicht im Shelter zu schlafen sondern vorbeizukommen, und so ist das Tagesziel etwas klarer als zuvor. Nach Verlassen des Nationalparks komme ich durch Thisted, wo ich wieder etwas über die Transcimbrica nachdenken muss, und dann an den zweiten Highlight-Abschnitt des Tages, immer entlang des Thisted Bredning (einer Art Haff) und des Limfjords. Ein Damm, auf dem man zwischen Fjord und einem kleinen See entlangfahren kann, ist gesperrt, so dass ich um den kleinen See auf einer kleinen Schotterstraße herumfahren muss. Beachtlich sind die Fremdsprachenkenntnisse der Bauarbeiter: Mir wird einwandfrei erklärt wie ich auf die kleine Schotterstraße komme, wo und wie ich abzubiegen habe und wie weit das alles geht. Hervorragender Service! Später komme ich dann aber tatsächlich noch an eine Stelle an der sich links und rechts von mir wieder Wasser befindet, ein herrlicher Anblick! Auch der geschotterte Damm stört angesichts solcher Natur überhaupt nicht beim Fahren.

Der Limfjord im Norden Dänemarks

Etwas später brauche ich langsam eine Pause, und finde an einem Campingplatz einen netten Dänen, der mir den Kiosk aufschließt und mir ein Eis anbietet. Aber ich muss kein fertiges Stieleis nehmen, er hat richtige Kugeln und macht sie extra groß, dazu gibts eine gekühlte Cola. Draußen ist es irre warm geworden, und so unterhalten wir uns während ich das Eis im Schatten zu mir nehme etwas über die Gegend. Jetzt im Sommer ist hier alles voll von Feriengästen, sein Campingplatz quillt fast über, aber in wenigen Wochen wird sich das schon wieder ändern erzählt er. Dann kommen nur noch die Abenteurer, die Vogelbeobachter und die Radfahrer, die lieber außerhalb der Saison fahren. Wir verabschieden uns, er sagt bis Kristiansand ist es ja nicht mehr weit, die Fähre fährt doch dreimal am Tag. Ich belasse es dabei, dass wir einmal mit dem Rad rings ums Kattegat herum und auf dem Rückweg die Fähre von Kristiansand nach Hirtshals nehmen ist wahrscheinlich nicht so leicht zu erklären.

Eis!

Etwas später biege ich ab vom Fjord, hinein in die hügelige Landschaft Nordjütlands, mit Nadelbäumen und Heidelandschaft. Auch diese Strecken sind bekannt, ich genieße die Erinnerungen noch etwas und rolle durch die Nachmittagssonne nach Hune. Dort bin ich unschlüssig, als es plötzlich vom Supermarktparkplatz plötzlich laut „Ole“ ruft. Es ist Martin, der schon eingecheckt und geduscht ist. Wir laufen die letzten Meter zur Unterkunft, ich freue mich ihn in echt kennenzulernen, es ist herrlich. Dann bleibt nur noch auspacken, die Sachen einmal durchwaschen, aufhängen und trocknen lassen. Ich gehe auch noch kurz einkaufen, Nudeln und Getränke für den Abend. Wir lassen es uns gut gehen, Martin erzählt von seinen anderen Radreisen und von diesem und jenen, die Zeit geht schnell rum. Fürs Frühstück bleiben noch Nudeln übrig, und bevor es zu spät wird gehts auch schon ins Bett. Es war ein traumhafter Tag mit 220 Kilometern, einer Fährfahrt und vielen genialen Abschnitten in der Natur, dazu kommen die Begegnungen mit den Menschen. Bevor ich zu lange nachdenken kann bin ich auch schon eingeschlafen, während Martin noch seinen Blog von unterwegs schreibt.

Tag 3

Am Pausentag wache ich ausnahmsweise später auf, um 8 klingelt der Wecker. Vor dem Fenster höre ich den starken Regen fallen, und drehe mich noch einmal um. Eine Stunde später kann ich mich der Realität nicht mehr verschließen, und das Regenradar sagt eine Lücke kurz darauf voraus. Nach ein paar Nudeln von Gestern und schnellem Zusammenpacken verabschiede ich mich fürs Erste von Martin und mache mich auf die heute geplanten 50 Restkilometer bis Hirtshals. Die Straßen sind nass, teilweise steht das Wasser auf den Radwegen, aber von oben kommt vorerst nichts mehr. Auf bekannten Wegen geht es über hügelige Straßen Richtung Rubjerg Knude, einer bis zu 70 Meter über dem Meer aufragenden Wanderdüne, eine einmalige Naturschönheit Jütlands. Oben befindet sich der bekannte Rubjerg Knude Fyr, ein Leuchtturm, der im Jahr 1900 direkt auf der damals nur 5-7 Meter hohen Düne gebaut wurde und inzwischen 70 Meter von der Küste ins Inland versetzt wurde, um dem unvermeidlichen Sturz ins Meer zu entgehen. Oben fängt es langsam wieder an zu regnen, so dass ich mich auf die letzten Kilometer mache.

Bis Hirtshals passiert nicht mehr viel, die Regensachen dürfen noch ein bisschen zeigen warum sie dabei sind und kurz darauf stehe ich vorm Skaga Hotel, in welchem der Start am nächsten Tag erfolgen wird. Ich setze mich fürs Erste auf die überdachte Terrasse und schaue auf den Parkplatz. Zwei weitere Räder sind schon zu sehen, die meisten kommen aber erst in einigen Stunden an. Eine halbe Stunde später traue ich mich an die Rezeption und bekomme meinen Schlüssel schon deutlich vor der angekündigten Eincheck-Zeit ausgehändigt, so dass ich es mir in meinem Zimmer gemütlich machen kann. Warm duschen, Sachen zum trocknen ausbreiten und dann wieder runter um mich mit den ankommenden Radfahrern zu unterhalten, die Zeit vergeht schnell.

Martin kommt zwei Stunden später an, er hat noch ein bisschen im Motel gewartet und die Landschaft genossen, im Velomobil wird man halt nicht so nass. Kurz vor 2 kommen die Organisatoren des Brevets, ich erkenne Jan aus der Kopenhagener Ecke wieder, bei dem ich im Januar das Happy New Year Brevet nicht beendet habe, er freut sich ebenfalls mich zu sehen. Außerdem lerne ich Hamid und seine Frau kennen, beides Amerikaner. Er fährt alle Superbrevets die es in einem Jahr so gibt, und sie mit dem Auto immer zu den Tageszielen hinterher. Pünktlich um 16 Uhr fängt das angesetzte Briefing an, es wird ein kleiner Vortrag über die Eigenheiten des Radfahrens in den skandinavischen Ländern, über die Nutzung der Fähren auf der Strecke und die Unterbringung in den Hotels auf den Zwischenzielen erläutert. Vieles davon hat Jan mir im Januar schon erklärt, so dass ich ganz entspannt bin. Nach dem organisatorischen Teil folgt noch die Abnahme des Rads sowie die Aushändigung des Trikots, und dann das Abendessen. Da es am nächsten Tag um 4 Uhr Frühstück geben soll verabschieden sich alle früh, ich telefoniere noch kurz mit Carola und dann gehe auch ich ins Bett. Die Sachen für morgen sind gepackt, die Taktik klar: Ab morgen früh um 5 wird die nächsten vier Tage Rad gefahren, viel Rad.

Die noch unbefleckte Brevetkarte

Scandinavia ´22: Teil 1

Anmeldung, Planung, Motivation

Nach der Pause hinsichtlich „langer“ Brevets in 2021 und dem Ellenbogenbruch fühle ich mich nach einem radreichen Herbst in der Lage, in 2022 wieder einen großen Plan zu verfolgen. Im Januar flattert der Urlaubsplan in die Post und beinhaltet gleich schlechte Nachrichten: Drei Wochen Pflichturlaub Ende August, also dann wenn bereits fast alle langen, interessanten Brevets vorbei sind. Vorher sind Prüfungs- und Hausarbeitsphasen, also keine Chance. Nach kurzer Niedergeschlagenheit werfe ich die Suchmaschine meines Vertrauens an und schaue in den Veranstaltungskalender. Tatsächlich sieht es mit der Auswahl nicht so rosig aus, aber halt! Vom 19.-22. August soll das SBS stattfinden, das Superbrevet Scandinavia.

Skandinavien, also Dänemark, Schweden und Norwegen (Finnland liegt nicht auf dem Track), in einer Tour? Ich bin sofort Feuer und Flamme und nerve Carola ein bisschen mit Überlegungen. Zum Start nach Hirtshals mit dem Rad anreisen? Nach dem Brevet noch eine Woche Norwegen anhängen? Danach wieder mit dem Rad nach Hause? Wieviel Rad geht in 3 Wochen Sommerurlaub?

Kurze Zeit später öffnet die Registrierung, ich bin einer der ersten eingeschriebenen Teilnehmer. Es gibt 25 Plätze für internationale Teilnehmer, die restlichen Plätze sind für skandinavische Randonneure reserviert. Beim Preis muss ich heftig schlucken, natürlich ist Skandinavien für einen Radurlaub inklusive Hotels, Fähren und Essen eine andere Hausnummer als P-B-P oder die normalen Brevets zum Selbstkostenpreis in Deutschland, für einen Studenten ist es nahe an zu viel. Ich rede mir ein dass es um meinen Jahresurlaub geht und das Geld auf dem Konto auch bloß weniger wird, lieber eine schöne Unternehmung mit wertvollen Erfahrungen, wird sich schon lohnen. Ab da vergesse ich die Pläne für etwa 7 Monate und verschwende kaum noch Gedanken daran.

Da auch das SBS eine vollständige Brevetserie als Qualifikation vor dem Start erfordert, fängt die detaillierte Planung kurz nach der erfolgreichen Absolvierung des 600er Brevets in Hamburg an. Die Strecke ist nahezu vollständig veröffentlicht, die verschiedenen „Tagesziele“ sind bekannt und der Newsletter spricht von „baldigem Treffen in Hirtshals“. Die Vorfreude steigt, besonders nach der geglückten Generalprobe mit Rainer bei der Superrandonnée eine Woche vor meinem Urlaubsbeginn.

Der Plan

In den Wochen vor dem Start habe ich Komoot stundenlang malträtiert. Dabei ist das Problem gar nicht das Brevet, die vier Tage, die Strecke und die Rahmenbedingungen sind sowieso festgelegt. Allerdings habe ich Vor- und Nachher ja noch Urlaubstage zur Verfügung, während Carola schon wieder arbeiten muss. Dementsprechend kann ich Anreise und Abreise etwas ausdehnen. Am Ende stellt sich der Plan wie folgt dar: Montagabend Carola vom Zug abholen, und ihr das Ein-Personen-Zelt abnehmen, mein Fahrrad schnell fertig packen und Dienstags um 5 Uhr den ersten Zug nach Flensburg nehmen, um von dort die gut 500 Kilometer bis zum Start in den folgenden drei Tagen zurückzulegen. Streckentechnisch hoffe ich möglichst die kleinsten noch asphaltierten Straßen bei der Planung ausgewählt zu haben. Dabei sollen die ersten beiden Tage jeweils über 200 Kilometer lang werden, damit am letzten Tag der Anreise ein wenig Erholung für die Beine vor dem offiziellen Start drin ist.

Plan Hinfahrt

Dann soll es die folgenden vier Tage um nichts anderes als Radfahren gehen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von einer Kontrolle zur nächsten. Ganz einfach eigentlich.

Die Planung des Rückwegs gestaltet sich etwas schwieriger, da ich im Prinzip viel Zeit, aber wenig Mittel zur Verfügung habe. Da das Zelt sowieso gesetzt ist, hoffe ich noch ein paar Tage Jedermannsrecht in Norwegen und Schweden ausnutzen zu können, bevor es mit der Fähre zurück nach Dänemark und mit dem Rad nach Flensburg gehen soll. In Kilometern ausgedrückt sind das etwa 700 in möglichen 4-5 Tagen. Es soll anders kommen, aber dazu im nächsten Teil mehr.

Plan Rückfahrt

Für die Hin- und Rücktour habe ich jeweils Übernachtungen in Sheltern bzw. im Zelt geplant, ein Umstand für den ich Dänemark einfach liebe. Neben hervorragender Infrastruktur sind die Naturlagerplätze, häufig mit Holzhütten, Feuerplätzen, teilweise Sanitär und Frischwasser ausgestattet, ein grandioser Teil des Landes. Da ich außerhalb der Ferienzeit unterwegs bin muss ich auch keine allzu großen Sorgen haben keinen Platz abzubekommen, und kann in der größten Not immer noch mein Zelt aufbauen.

Shelter auf dem Rückweg

Superrandonnée Rheingold: Teil 3

Tag 3

Der dritte und gleichzeitig letzte Tag beginnt quälend, das weiche Bett hält mich einige Minuten länger gefangen als geplant. Als ich aufs Handy schaue sehe ich eine neue Nachricht von Rainer aufblinken: Er ist vor wenigen Minuten bei Kilometer 470 gewesen, und schon im langen anstieg zur Hohen Acht, der höchsten Erhebung der Eifel. Plötzlich bin ich wach, und schreibe ihm „dann hast du mich wohl überholt, ich beeile mich!“. So schnell wie möglich die Radklamotte angezogen, alles in den Gepäckträger geworfen und ab geht es, ebenfalls direkt in den Anstieg zur Hohen Acht. Fehlendes Frühstück hat mich noch nie gestört, heute wird es erst in Mayen, nach der Hohen Acht und weiteren 25 Kilometern eine Möglichkeit zur Verpflegung geben. Ich rechne ein bisschen rum und denke, dass ich Rainer eventuell oben am Kontrollpunkt abfangen kann. Der Anstieg zur Hohen Acht ist herrlich zu fahren, sehr gleichmäßig, und um 5 Uhr in der Früh nahezu verkehrsfrei. Über den geschotterten Parkplatz geht es die letzten Meter auf den Wanderweg hoch zum Bismarck-Turm. Die letzten Meter sind mit weit über 20 Prozent und einer 180° Wende nicht fahrbar, das war schon in der Beschreibung so angekündigt. Selbst mein Rad die letzten 100 Meter hinaufzuschieben ist im Dunkeln eine Herausforderung, mehrmals komme ich trotz meiner Mountainbike-Schuhe ins Rutschen. Oben ist schon ganz langsam etwas Licht am Horizont zu erkennen, nur Rainer habe ich bis hierhin nicht getroffen. Erstmal mache ich das obligatorische Foto, schaue mir den Turm an und überlege. Nach meiner Rechnung kann Rainer eigentlich nur vor mir auf dem Track sein, wahrscheinlich ist er auf dem Weg nach Mayen und plant dort ebenfalls eine Frühstückspause ein.

Kontrolle Hohe Acht, Eifel

Aus Angst vor Auskühlung mache ich mich schnell auf den Weg die Hohe Acht hinunter, direkt hinein in den Sonnenaufgang. Leider ist mir nach wenigen Minuten so kalt, dass die versuchten Fotos allesamt verschwommen sind und maximal unter dem Prädikat „Moderne Kunst“ einzuordnen.

Die Fahrt bis Mayen vergeht wie im Flug, und durch einige kleine Gegensteigungen wird es immerhin ab und zu etwas wärmer in den Extremitäten. Die letzte Abfahrt führt geradewegs durch ein kleines Tal mit Serpentinen nach Mayen hinein. Mein Weg führt mich zur erstbesten Tankstelle, einer Aral mit großem „Frühstücksbuffet“. Ich lasse mir ein Hotdogbrötchen aufwärmen, trinke einen großen Kakao und genieße die Gespräche der Handwerker mit der netten Tankstellenmitarbeiterin. Ein bisschen beschleicht mich das Gefühl nicht der erste Radfahrer zu sein, der bei ihr etwas zerschlagen und mit müdem Gesicht auftaucht und eine längere Pause braucht. Während des Essens stellt sich heraus, das Rainer erst oben auf der Hohen Acht ist, ich habe mich im Halbschlaf derart verrechnet dass ich wieder 20 Kilometer in Front bin. Er schreibt von den kalten Tälern, ist er doch kurz nach Mitternacht losgefahren um das Zeitlimit noch einzuhalten, harter Hund. Ich kann mir vorstellen wie die vielen kleinen Täler der Eifel in der Nacht ihm das Leben schwer gemacht haben. Ich verspreche ihm viele Möglichkeiten zur Verpflegung in Mayen, verschweige vorsichtshalber die Gegensteigungen und mache mit ihm aus, schonmal weiterzurollen. Hinter Mayen geht es auf einen wunderschönen Radweg, der auf einer ehemaligen Bahntrasse angelegt ist und die Stadt Mayen mit dem Ort Münstermaifeld verbindet. Die mit der offizielle Bezeichnung Maifeld-Radweg versehene Strecke ist ideal um die schweren Beine ein bisschen locker rotieren zu lassen, und die Kraft für die letzten Herausforderungen zu sparen. Highlights auf der Strecke gibt es dennoch einige, u.a. das Viadukt über das Tal der Nette, das Lehnen-Viadukt und die beiden ehemaligen Eisenbahntunnel Hausen 1 und Hausen 2. Leider ist das Nette-Viadukt völlig durch große Sicherheitszäune verunstaltet, biete mir aber dennoch einen imposanten Blick über das darunterliegende Tal.

Nette Viadukt auf dem Maifeld-Radweg

Die Strecke bis zur nächsten Kontrolle an der Burg Eltz ist in der Morgensonne unauffällig entspannt, es geht leichte Hügel hinauf und hinab, starke Steigungen sind jedoch nicht in Sicht. Plötzlich macht sich der Kakao bemerkbar, den ich nicht an jedem Tag gut vertrage… So kommt es zu meinem persönlichen Tom Dumoulin Moment, etwas das ich nicht soviel häufiger brauche. Immerhin ist niemand in der Nähe und ich kann mich „danach“ etwas sortieren. Am Parkplatz der Burg lässt mich der Torwächter mit den Worten „Vorsicht in der Abfahrt, es ist steil“ gewähren. Schon lange habe ich auf dem Höhenprofil den kleinen, aber dunkelrot eingefärbten Abschnitt entdeckt, den es nach der Kontrolle in entgegengesetzter Richtung wieder hinaufgehen soll. Froh bin ich, dass wir „nur“ bis zum Balkon mit Aussicht auf die Burg müssen, und nicht die gesamte Abfahrt ins Tal auf dem Plan steht. Dort angekommen hält die Burg, was auf den Informationstafeln groß angekündigt wird: Die Burg Eltz gilt als eine, wenn nicht sogar die schönste Burg Europas, und atmet förmlich die über 900 Jahre alte Geschichte. Ich mache einige Fotos, genieße die tolle Stimmung im Morgenlicht und denke an die nur noch zwei verbleibenden Kontrollen.

Leider habe ich vergessen, in der Abfahrt in einen kleinen Gang zu schalten, so dass ich mir bei den ersten Umdrehungen der Kurbel an der Rampe auf dem Weg Richtung Parkplatz fast einen Krampf hole. Etwas ruhiger geht es ich weiter, Rainer hat mitgeteilt dass es gut läuft und er in seinem Tempo vernünftig vorankommt. Über Münstermaifeld und das wunderbar zu fahrende Schrumpftal geht es zum zweiten Mal auf dieser Runde an die Mosel, erneut ist ein toller Ausblick über den sich träge dahinwindenden Fluss garantiert. Nach der Überquerung beginnt der vorletzte „lange“ Anstieg, den man schon von der Gegenseite aus bewundern konnte. Tolle Serpentinen ziehen sich den Berg hinauf, halb im Schatten liegend sind ein letztes Mal eindrucksvolle Blicke ins Moseltal möglich.

Leider ist der obere Teil des Anstiegs dann eine ewige Quälerei, immer geradeaus bei wenig Steigung aber Gegenwind, so dass man kaum Höhenmeter erwirtschaften kann. Zudem weicht die Ruhe nun dem Lärm der parallel laufenden A 61 für einige Kilometer und die Hitze wird immer drückender. An einer Shell-Tankstelle fülle ich ein letztes Mal die Flaschen und esse noch ein Eis, bevor es ab von der vielbefahrenen Hunsrückhöhenstraße ins Tal des Gründelbachs und unten angekommen direkt wieder in den letzten langen Anstieg hinauf Richtung Utzenhain geht. Von dort ist es nur ein Katzensprung bis zur vorletzten Kontrolle, dem Loreleyblick-Denkmal in Urbar. Dort setze ich mich erstmal für eine Weile in den Schaukelstuhl und genieße den Blick auf Rhein und den berühmten Loreleyfelsen.

Nach einiger schaffe ich es, mich aufzuraffen und den letzten Abschnitt in Angriff zu nehmen. Eigentlich ist der restliche Plan ganz einfach: Abfahrt nach St. Goar, Rheinradweg bis Boppard, und hoch zum Gedeonseck über der berühmten Rheinschleife. Als ich jedoch unten am Rhein ankomme erschlägt mich die Hitze fast. Durch die Tallage heizt es sich dort deutlich stärker auf als in den Tälern zuvor, so dass der Garmin schnell von 30° auf 33° steigt, bevor ich die Temperaturanzeige ausstelle. Das flache Rollen empfinde ich als deutlich unangenehmer, die Zeit geht schleppend vorbei und ich hoffe an jedem Schild das Boppard bald erreicht ist. Irgendwann kommt dann tatsächlich der Abzweig vom Rhein in eine Seitenstraße, und plötzlich wird es ein letztes Mal richtig steil. Zum Glück liegen die letzten 200 Höhenmeter der Tour vollständig im Schatten und es gibt nahezu kaum Autos, so dass die finalen Kilometer noch ganz gut zu ertragen sind. Oben am Restaurant ist viel los, bei dem Wetter haben unzählige Touristen den Weg zu Fuß oder mittels der Seilbahn auf sich genommen. Ich schieße das letzte Kontrollfoto, setze mich in den Schatten und atme erstmal in Ruhe durch. Eine Touristen bittet mich noch Fotos von sich zu machen, und nach zwei bis drei Verbesserungen ist sie zufrieden und erzählt, das Urlaub alleine immer ein bisschen schwierig ist. Ich lächle mitfühlend und weise auch auf die Vorteile hin.

Kontrollfoto Gedeonseck, Ziel
Rheinschleife vom Gedeonseck

Epilog

Leider hat die SR Rheingold einen kleinen Haken: Der aufmerksame Leser hat schon gemerkt, dass Start und Zielpunkt nicht auf dieselben Koordinaten hören. Bis Koblenz sind es durchs Rheintal noch 22 Kilometer, die mit viel Verkehr und der unsäglichen Hitze kaum Anziehungskraft auf mich ausüben. Irgendwann kann ich mich dann durchringen schon vorzufahren und die Rucksäcke aus dem Bahnhofsschließfach zu befreien. Wie am ersten Tag hole ich auch schon den Schlüssel der kleinen Ferienwohnung ab und checke uns ein, um dann endlich unter die kalte Dusche zu springen. Rainer kommt etwa 3 Stunden später, natürlich wie immer entspannt im Zeitlimit, und freut sich das alles schon fertig organisiert ist und er nur noch absteigen und sich aufs Sofa plumpsen lassen muss. Ich freue mich dass wir nun wieder zu Zweit sind, so gehört sich das ja eigentlich auch. Traditionell bestellen wir uns Pizza und ich fahre nochmal los, um ein paar lokale Biere für Rainer und einen Saft für mich zu kaufen. Wir essen, trinken und fachsimpeln noch ein wenig, Rainer erzählt von den Strapazen der Nacht, und wirkt dennoch erstaunlich fit. Ich bin beeindruckt von meinem 39 Jahre älteren Begleiter!

Schlussworte

Die SR Rheingold hat mir einen Riesenspaß gemacht, Felix hat da eine unfassbar gute, verkehrsarme Strecke auf die Beine gestellt. Vor allem die Kontrollspots sind durchweg landschaftliche Highlights, auf die man sich als Zwischenziel immer freuen kann. Die Versorgung war zwar nicht super einfach, aber es gibt auch keine Abschnitte auf denen man Verhungern oder Verdursten würde. Ein ordentlicher Randonneur hat sowieso immer gut im Blick wann er Proviant aufnehmen muss und wann nicht. Von der Schwierigkeit her liegt Rheingold über der Sauberland-Achterbahn, und ist schlicht nicht mit der Ötztalrundfahrt zu vergleichen, da Mittelgebirge und Hochgebirge zu verschieden sind. Ich kann die Runde jedenfalls uneingeschränkt empfehlen, egal ob mit gebuchten Übernachtungen oder einem straffen Ritt mit Blick auf eine schnelle Zielzeit.

Am Ende bleibt nur der Dank an Rainer, wieder mit mir auf die Reise gegangen zu sein. Zusammen haben wir die Herausforderungen wieder einmal unkompliziert gelöst und neben der Anstrengung auch sehr viel Spaß gehabt. Ich hoffe wir können noch die ein oder andere Tour zusammen angehen, die Liste der interessanten Herausforderungen wird nicht kürzer und die nächste Superrandonnée wartet in 2023!

Kontrollkarte: Check!

Superrandonnée Rheingold: Teil 2

Tag 2

Der zweite „Tag“ beginnt eigentlich schon mitten in der Nacht, denn pünktlich um 3 Uhr klingelt uns der Wecker aus dem weichen Bett. Nach 5 Stunden Schlaf fällt das Aufstehen zwar nicht übermäßig schwer, die Motivation zum Anziehen der benutzten Radklamotten und dem Packen des Rads lässt dennoch zu wünschen übrig. Irgendwann schaffen wir es dann irgendwie aufs Rad, verlassen die hübsche, warme Geborgenheit des Hotels und rollen in die dunkle Nacht hinaus, nur um 2 Kilometer später an der Abends ausgesuchten Tankstelle zum Frühstücken anzuhalten. Der Verkäufer am Nachtschalter ist zwar etwas verwundert, bringt dann aber mit Bravour alle gewünschten Snacks und Getränke, die uns auf den nächsten 100 Kilometern durch das dritte Mittelgebirge, den Hunsrück, versorgen sollen. In der Streckenbeschreibung sind die nächsten 100 Kilometer bis Thalfang so etwas wie Wüste, in der es außer einem einzigen Bäcker nichts an Verpflegung gibt. Nachdem alles in den Taschen verstaut ist und Rainer seinen Kaffee ausgetrunken hat machen wir uns auf den Weg. Bis zur ersten Kontrolle des Tages sind nur 10 Kilometer, allerdings auch etwa 600 Höhenmeter zu bezwingen. Durch die dunkle Stille geht es direkt steil aus Bingen heraus, um dann etwas weiter oben auf angenehmere Steigungsprozente abzuflachen. Die nächsten Kilometer kämpfen wir, jeder für sich, Meter um Meter den Berg hinauf. Am Anfang sieht man noch ab und an die Lichter unten am Rhein, bevor in der Stille des Waldes die Geräusche des Rades, die eigene Atmung und die Dunkelheit zu einem Ganzen verschwimmen. Es kommt mir vor als wären Stunden vergangen, als ich endlich an der Lauschhütte ankomme und der Anstieg sein Ende findet. Kurz denke ich, jetzt ein wenig Zeit zum Ausruhen zu haben, als Rainer auch schon um die Ecke gebogen kommt. Die Kühle am Morgen zusammen mit der entspannten Nacht haben ihm gut getan, die Kraft ist wieder da. Also machen wir nur schnell Kontrollfotos, ich stelle fest das ich das obligatorische Rahmenschild im Hotel verloren habe, und stürzen uns in die Abfahrt.

Durch den dunklen Wald zittern wir uns die gerade erst erarbeiteten Höhenmeter wieder hinunter. Sowieso ist das eine der anstrengenden Seiten einer Superrandonnée: Jeder Hügel den man sich hinaufkämpft wird innerhalb von Minuten mit der nächsten Abfahrt egalisiert, bevor alles wieder von vorn beginnt. Mitten in der Abfahrt entscheidet sich Rainer, doch seine Regen/Windjacke anzuziehen, um nicht völlig erfroren unten anzukommen. Ich rolle weiter und überfahre auf den letzten abschüssigen Metern fast noch einen todesmutigen Hasen, der sich mir im Scheinwerferlicht entgegenwirft. Unter der hell erleuchteten A 61 hindurch geht es direkt in den Gegenanstieg über Daxweiler zum berühmten Bäcker nach Seibersbach, der erst um 6 Uhr öffnen soll. Als wir um 5.30 Uhr vorbeifahren steht die Tür allerdings schon weit offen und frischer Backgeruch kommt uns entgegen, so dass wir uns frech hineinmogeln und der wirklich netten Bäckersfrau ein paar süße Teilchen zum Frühstück abschwatzen können. Sie kennt die Randonneure scheinbar schon, freut sich jemanden zum Erzählen zu haben und lässt uns dann für 10 Minuten allein im Gastraum sitzen, um ihre gesetzliche Pause vor dem offiziellen Geschäftsbeginn zu vollziehen. Frisch gestärkt und mit einer ordentlichen Portion Glaube an das Gute im Menschen geht es entspannt durch den sich anbahnenden Sonnenaufgang durch die verlassenen Straßen des Hunsrücks.

Sonnenaufgang im Hunsrück

An einer Baustelle fehlt die Brücke, die Bauarbeiter winken uns über eine wenig vertrauenserweckend aussehende Umleitung, auf der wir das Rad schultern und uns einen Abhang hinunter und auf der anderen Seite wieder hinaufkämpfen müssen. Kurz vor der nächsten Kontrolle am höchsten Berg westlich des Rheins, dem Erbeskopf, trennen sich Rainer und ich erneut, damit jeder in seinem Tempo den Aufstieg bewältigen kann. Trotz der frühen Tageszeit wird es schon wieder ordentlich heiß, so dass wir hinter der Kontrolle auf jeden Fall eine Pause einplanen müssen. Oben am Erbeskopf ist es wunderbar ruhig, nur zwei weitere Paare sind außer mir vor Ort. Ich rolle bis zur Skulptur Windklang, dem Wahrzeichen des Erbeskopfes, und mache mein Kontrollfoto. Die Touristen sind aus Belgien und wir tauschen uns etwas über Urlaub und die Gegend aus. Zwei Tage zuvor sind die Beiden auf den Erbeskopf gewandert, bei 10 Grad und Regen sowie null Sicht. Heute hingegen können wir unzählige Kilometer weit über die Landschaft schauen.

Nach einiger Zeit kommt Rainer angerollt, und nachdem auch er die Fotos im Sack hat und ein bisschen den Blick genießen konnte geht es in die lange Abfahrt nach Thalfang hinab. Dort erblicken wir direkt am Ortseingangsschild die Shell-Tankstelle, und biegen ab. Es gibt Eis, kalte Getränke und ein bisschen was zur Stärkung, bevor wir uns in der drückenden Hitze auf den Weg zur Mosel machen. Bis dahin ist es laut Streckenbeschreibung „nur“ ein kleiner Höhenzug, der sich aber eine ganze Weile zieht. Oben angekommen bietet sich uns jedoch ein tolles Panorama. Wie die Mosel sich durch die flachen Weinberge zieht, dazu der strahlend blaue Himmel und die Sonne… Wir müssen einfach für einige zusätzliche Fotos anhalten.

Die Mosel im Tal der großen Dhron

Nachdem wir die Mosel überquert haben und ins Tal der kleinen Dhron abbiegen macht sich jedoch immer mehr bemerkbar, dass Rainer sehr unter der Hitze leidet und ich heute einfach ein bisschen zu ungeduldig, eventuell die Beine auch ein bisschen zu gut sind. Und so schlage ich etwas selbstsüchtig vor, Rainer alleine zu lassen, damit er in seinem Tempo und mit seinen Pausen, und ich in meinem Rhythmus voraus fahren kann. Er hat nicht großartig etwas einzuwenden und ist sowieso ein sehr lieber Mitfahrer, der sich auch den Unmut nicht unbedingt anmerken lassen würde. So kommt es, dass wir uns zum ersten Mal auf einer Superrandonnée für längere Zeit trennen und ich nicht am nächsten längeren Anstieg warte. Das Tal ist außerordentlich schön, immer wieder geht es links, rechts, und leider auch immer wieder kleine steile Hügel hinauf. Seit der Moselüberquerung befinden wir uns nun schon in der Eifel, und langsam werden die typischen Anzeichen immer dichter. So richtig bewusst wird einem das an der nächsten Kontrolle, dem Meerfelder Maar. Dieses inmitten des größten Maartrichters der Eifel befindliche Naturschauspiel zeigt eindrucksvoll die vulkanische Vergangenheit der Gegend. Das Maar an sich ist über 30.000 Jahre alt und bietet im Sommer sogar die Möglichkeit, im örtlichen Naturbad ein Bad in einem erloschenen Vulkan zu nehmen. Das Kontrollfoto schieße ich an der Skulptur „Urknall“, die sich direkt hinter dem Ortsausgang von Meerfeld verbirgt, und einen hübschen Blick auf das Naturschutzgebiet freigibt.

Kontrolle Meerfelder Maar, Skulptur Urknall

Da in Meerfeld kein Supermarkt an der Strecke liegt und die Hotels auf mich alle einen etwas zu feinen Eindruck machen, fahre ich weiter. Das nächste Ziel ist Gerolstein, dort soll es Tankstellen und alles Weitere geben. Der Weg führt entlang des Kosmosradwegs einige Kilometer entlang der kleinen Kyell, bevor man in Neroth noch einmal von der Hauptstraße auf einen kurzen, steilen Anstieg direkt vor Gerolstein geschickt wird. Die folgende Abfahrt ist zum Genießen, so dass ich relativ entspannt Gerolstein erreiche und dort direkt die Aral-Tankstelle aufsuche. Zwei Stieleis, Cola und kaltes Wasser später entscheide ich möglichst zügig weiterzufahren, um der großen Stadt und dem vielen Lärm schnell wieder zu entgehen. Die bisher meist abgeschiedenen Strecken tragen noch dazu bei, das ich den plötzlichen Straßenlärm im Zusammenspiel mit der Hitze schlechter verkrafte als sonst. Die nächste Kontrolle ist nur wenige Kilometer weiter, in Auel soll die Statue des Nepomuk auf einer Brücke fotografiert werden. Auch sind an dieser Stelle etwas über 400 Kilometer bereits vorbei und somit zwei Drittel der Strecke geschafft.

Kontrolle Auel, Statue Nepomuk

Da es gerade gut läuft und es bis zur nächsten Kontrolle wiederum nur 24 Kilometer sind, mache ich mich auf den Weg, um möglichst viele Kilometer an diesem Tag hinter mich zu bringen. Tags zuvor hatten Rainer und ich noch geplant, bis ungefähr Kilometer 450 zu kommen, um dort wieder ein paar Stunden auszuruhen und etwas Schlaf zu bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt glaube ich, das unser Plan auch aufgehen wird. Bis zur Kontrolle in Lommersdorf folgt ein harter Abschnitt, der durch den aus nördlichen Richtungen wehenden Wind noch verschärft wird. Hügel auf Hügel geht es durch die Felder, längere gleichmäßige Stücke gibt es so gut wie keine mehr. Auch der sonst bestimmt eindrucksvolle Blick auf die Kegelberge der nördlichen Vulkaneifel lassen nur wenig Hochstimmung aufkommen, ich bin froh dass ich mit jedem Tritt etwas weiter vorwärts komme. Am Kontrollpunkt in Lommersdorf kontaktiere ich Rainer, um abzusprechen wie wir weiter vorgehen, ob ich eine Unterkunft in einigen Kilometern Entfernung für uns buchen soll und wie es ihm geht. Leider stellt sich heraus, dass er durch die Hitze doch deutlich mehr Zeit gebraucht hat und immer wieder Pausen einlegen muss, damit der Kreislauf nicht zusammenbricht. Bis Kilometer 450 ist es für ihn utopisch, er will lieber früher eine Unterkunft finden und dann mitten in der Nacht auf den letzten Teil der Reise starten. Da ich jetzt schon einige Kilometer weiter bin ist also klar, dass ich mir selbst eine Unterkunft nur für mich suchen muss. Bei Booking sieht die Aussicht allerdings äußerst ernüchternd aus: Auf dem Abschnitt hinter der nächsten Kontrolle steht das Ahrtal auf dem Programm, dass deutschlandweit durch die Verwüstungen im letzten Jahr bekannt ist. Ich telefoniere mich durch dutzende Pensionen und Hotels, die entweder noch nicht wieder auf oder vollständig ausgebucht sind. Alle klagen über die fehlenden Kapazitäten und können mir nicht weiterhelfen. Verzweifelt fahre ich erst einmal weiter, mit der Aussicht eventuell die Nacht keinen Schlafplatz zu finden und ohne die richtigen Klamotten durchfahren zu müssen. So kommt es, dass ich die meist erwartete Kontrolle, das Radioteleskop Effelsberg (eines der beiden größten, vollbeweglichen Radioteleskopen auf diesem Planeten!), kaum genießen kann. Ein schnelles Foto im Sonnenuntergang, und direkt wieder am Handy und die Internetsuche auf.

Kontrolle Lommersdorf
Kontrolle Radioteleskop Effelsberg

Schließlich, 16 Kilometer ab vom Track, finde ich eine Unterkunft, die explizit Gäste mit ihrer Nähe zum Nürburgring anspricht. Ich rufe kurz an, frage ob ich 22 Uhr und mit dem Rad noch ankommen darf, erhalte ein wenig überzeugendes „Ja!“, und fahre drauf los. Bis Ahrbrück geht es auf und ab mit der Sonne im Rücken und kaum Verkehr, die Aussicht auf meine Unterkunft gibt noch einmal neue Kraft. Im Ahrtal zeigt sich dann das ganze Ausmaß der schrecklichen Flutkatastrophe: Viele Häuser stehen leer, sind entkernt oder werden gerade wieder aufgebaut, die Radinfrastruktur, welche Komoot mir vorschlägt um nach Adenau zu gelangen, existiert einfach nicht mehr. Statt dem Track zu folgen biege ich nun ins Ahrtal ab, um die Unterkunft 16 Kilometer flussaufwärts zu erreichen. Fluss ist dabei jedoch eine völlige Übertreibung, die Ahr ist nicht mehr als ein Rinnsal, das die verbliebenen Menschen hämisch auszulachen scheint. Auf der Schnellstraße sind viele Pickups und Baufahrzeuge unterwegs, teilweise ist auch die rechte Spur nicht mehr vorhanden, alles weggespült von den Wassermassen. Ich beeile mich und bin kurz vor 22 Uhr an meiner Unterkunft und bekomme nach kurzem Telefonat des Türcode, alles klappt super. Das Geld soll ich einfach auf dem Tisch im Zimmer lassen. Viel Spaß und Gute Nacht gewünscht, und schon bin ich in einem herrlichen Zimmer und kann endlich etwas runterfahren. Schnell duschen, alle Geräte an den Strom, kurz mit Rainer ausgetauscht, der ebenfalls für ein paar Stunden eine Unterkunft gefunden hat, und dann schlafen. Der Wecker steht auf 4 Uhr, etwas mehr Erholungszeit als gestern ist nach den heutigen 276 Kilometern und etwa 5000 Höhenmetern drin, ich hoffe das Rainer mich bis dahin eingeholt hat. Noch kurz die Zwischenzeiten in England gecheckt, Carola fährt bei L-E-L hervorragend vor sich hin, und schon schlafe ich mit dem Handy in der Hand ein.

Superrandonnée Rheingold: Teil 1

Nach einem Jahr Auszeit aufgrund von Corona-Ellenbogen-Ahrtal Zwangspause ist es in diesem Jahr wieder soweit gewesen: Die dritte Superrandonée zusammen mit Rainer stand für Anfang August auf meinem Terminkalender. In diesem Jahr fiel unsere Wahl auf die SR Rheingold vom ARA Niederrhein mit Start in Koblenz. Nähere Infos bekommt man im Rennrad-Forum direkt vom Organisator Felix, der die Strecke wie folgt beschreibt:

Rheingold” heißt die neue Superrandonnée im Westen Deutschlands, veranstaltet unter dem Dach von ARA Niederrhein. Sie führt vom Deutschen Eck in Koblenz durch die drei Mittelgebirge Taunus, Hunsrück und Eifel. Auf kleinen Wegen und Straßen werden die schönsten Landschaften und Sehenswürdigkeiten miteinander verbunden: zahllose Burgen, Weinhänge entlang der Flüsse, dünn besiedeltes Hinterland, und natürlich die höchsten Berge. Der Große Feldberg, der Erbeskopf, die Hohe Acht, dazu die Moselschleife bei Trittenheim, Vulkankegel, das Radioteleskop Effelsberg, Burg Eltz und die Loreley zählen zu den Highlights der Strecke. Ziel ist am Gedeonseck bei Boppard, wo man hoch über der Bopparder Hamm die Runde Revue passieren lassen kann.

Rennrad Forum

Anreise

Nachdem klar war, dass wir in diesem Jahr nicht mit dem Auto sondern stattdessen mit der Bahn zum Start anreisen, ging das Buchen der Züge los. Von Hamburg aus war früh um 5 Uhr noch eine gute Verbindung inklusive Fahrradstellplatz und preislich im bezahlbaren Bereich zu bekommen, so dass Rainer sich dazu entschied, am Freitag von Berlin nach Hamburg anzureisen, eine Nacht auf meinem Sofa zu verbringen und dann zusammen am Samstag zum Hauptbahnhof zu starten. Die Vorteile lagen dabei klar auf der Hand, wir hatten einen schönen Abend mit Bier, Radler und angenehmen Gesprächen, konnten zeitig ins Bett gehen und so entspannt wie es um 4 Uhr morgens geht, die ersten 20 Kilometer bis zum Bahnhof zurücklegen. Die Bahnfahrt war dann bis auf eine kleine Verzögerung herrlich unaufgeregt, Rainer hörte Podcasts oder las viel, während ich die meiste Zeit Musik hörte und die Augen zu machte. In Koblenz dann der Check ob die Schließfächer für die nächsten 3 Tage funktionieren würden, und dann schnell ins Hotel etwa 9 Kilometer vor Koblenz direkt am Rhein gelegen. Am Nachmittag dann noch einen langen Spaziergang zum nächsten Supermarkt (etwa 6 Kilometer), der mir ordentlich Muskelkater in den Waden bescherte, einen Flammkuchen im Hotel, Brötchen für den nächsten Tag geschmiert und ab ins Bett. Im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben war aufgrund der angesagten Temperaturen der Start auf 7 Uhr vorgezogen worden, so dass wir uns versprachen wenigstens die ersten Kilometer im angenehmen Bereich zu erleben. Pünktlich um 20 Uhr war dann auch Licht aus und das bekannte, diesmal aber gut erträgliche, Schnarchkonzert begann.

Start

Pünktlich um 6 klingelt der Wecker, anziehen, Sachen packen, Rad aus dem Frühstücksraum holen und ab. Diesmal nicht auf dem zwar schönen, aber äußerst kaputten Rheinradweg, sondern auf der Bundesstraße Richtung Start. Unterwegs geben wir schnell den Rucksack mit den Alltagsklamotten in ein Schließfach am Hauptbahnhof ab und sind rechtzeitig zum anvisierten Start um 7 Uhr am Deutschen Eck.

Deutsches Eck in Koblenz

Ab jetzt gilt es, die vorgegebenen 600 Kilometer und etwas über 10.000 Höhenmeter in den nächsten 60 Stunden zu absolvieren. Als Beweis dieses Unterfangens sind an den festgelegten Kontrollstellen Fotos mit dem eigenen Rad zu schießen, insgesamt 17 an der Zahl. Dieses Jahr ist unser Plan einfach gehalten: Ruhig fahren, die Zeit genießen, jeden Abend eine feste Unterkunft für ein paar Stunden und die 60 Stunden möglichst gut ausnutzen.

Tag 1

Vom Start weg geht es über die Pfaffendorfer Brücke über den Rhein, um beim Verlassen von Koblenz ins Mühltal und damit in den Westerwald, das erste von den vier zu durchfahrenden Mittelgebirgen, einzutauchen. Direkt von Anfang an stehen vor allem kleine bis sehr kleine, wenig befahrene Straßen auf dem Plan, die mir persönlich außerordentlich gut gefallen. Obwohl sich die Steigungsprozente auf dem ersten Abschnitt bis zur Kontrolle am Wanderparkplatz in Arzbach noch zurückhalten, sammeln wir schon einige Höhenmeter zusammen. Noch ist es sehr angenehm, auch wenn uns die Sonne schon seit dem Start ins Gesicht lacht. Immer wieder begegnen wir Hinweisschildern zum Limes, der ehemaligen römischen Grenzanlage, deren Verlauf wir für einige Kilometer folgen.

Nach 40 Kilometern, auf dem Weg zum zweiten Kontrollpunkt in Katzenelnbogen (Unaussprechlich!!), mit inzwischen schon 800 absolvierten Höhenmetern, biegen wir auf die kurze, aber sehr hübsche Abfahrt ins Lahntal ein und beenden den Abschnitt durch den Westerwald. Von oben bietet sich ein toller Blick auf die letzten Weinanbaugebiete an der Lahn, die einen kleinen Vorgeschmack auf die nächsten Tage, und vor allem auf die Zeit an der Mosel, ermöglichen. Allerdings ist auch die anspruchsvolle, sich direkt aus dem Tal windende Straße auf den gegenüberliegenden Hängen nicht zu übersehen, die allerdings zu unserem Glück noch im Schatten liegt. Wir befinden uns jetzt im zweiten Mittelgebirge, dem Taunus.

Die weiteren Kilometer bis zur Kontrolle sind vor allem durch starke Sonneneinstrahlung gemischt mit ruhigen, wenig steilen Straßen geprägt, so dass wir ohne Probleme Katzenelnbogen erreichen. Der Ort macht seinem Namen alle Ehre, Rainer wird sofort von einer süßen kleinen Vierbeinerin begrüßt, die ihre sonntäglichen Streicheleinheiten einfordert. Nach einer kleinen Verpflegungspause machen wir uns auf den höchsten Punkt der ganzen Tour zu erklimmen, denn der nächste Kontrollpunkt befindet sich oben auf dem Großen Feldberg, dem höchsten Berg des Taunus. Bis dahin sind 40 Kilometer zu absolvieren, und die Hitze drückt nun schon beträchtlich.

In einem kleinen Ort erspähen wir einen Italiener, eine der wenigen offenen Verpflegungsstellen an einem Sonntag wie diesem. Ich entscheide mich für die traditionell gewordene Portion Eis, Rainer für eine ganze Pizza und ein gekühltes Bier. Wie er das auf unseren (und auch seinen ) Touren immer macht weiß ich nicht, nach einem Bier würde ich heute höchstens noch bis zum nächsten Baggersee kommen. Aber die Pause hilft um neue Kräfte zu sammeln und die letzten Kilometer bis zur Kontrolle etwas entspannter anzugehen. Zudem sind auch die Flaschen wieder mit kühlem Wasser gefüllt, was einigermaßen beruhigend auf mich wirkt. 15 Kilometer vor dem Großen Feldberg entscheiden wir, dass ich bis dorthin vorfahre und mich oben schonmal um eine Unterkunft für die Nacht kümmere, damit Rainer seinen Rhythmus und ich meinen fahren kann.

Kontrolle Großer Feldberg

Die letzten Kilometer sind naturgemäß etwas stärker mit motorisierten Verkehrsteilnehmern frequentiert, heute allerdings gut fahrbar und keineswegs unangenehm. Ich hänge mich aus Spaß noch kurz an einen überholenden Rennradfahrer, der mich nach einiger Zeit und einem kurzen Blick nach hinten dann aber abschüttelt. Oben angekommen bin ich schweißnass, aber ganz glücklich mit dem bisherigen Tourverlauf. Nur die Planung der Übernachtung gestaltet sich als nicht so einfach, da wir bis in den frühen Nachmittag gerade einmal 97 Kilometer geschafft habe, und mindestens 200 Kilometer am ersten Tag schaffen müssen um irgendwie im Zeitlimit zu bleiben. Bei kurzer Hochrechnung wird klar, dass wir sehr spät ankommen werden, also ein Hotel oder eine Unterkunft mit entsprechender Rezeption infrage kommt. Am Ende bleibt das NH Bingen übrig, welches nach telefonischer Auskunft zur Not die ganze Nacht ein einchecken ermöglicht. Als die Buchung durch ist fährt Rainer auch schon ein, macht sein Foto und füllt unsere Flaschen auf, gutes Teamwork. Auf dem nächsten Abschnitt geht es über einige Kilometer nur bergab, meistens auf schönen, gut asphaltierten Straßen. Einzig zwei lebende Organspender (ein überaus unangenehmer, schlechter Begriff) halten es für eine tolle Idee uns mit über 200 km/h und einem nicht nennenswerten Seitenabstand bergab überholen zu müssen. Danach geht mir ordentlich die Pumpe, die sich aber durch den weiteren, entspannten Verlauf wieder beruhigt. In Niedernhausen halten wir noch ein weiteres Mal zum Eis essen an, bei dem ich mich durch zwei Wespen bedingt ordentlich bekleckere und die nächsten zwei Tage mit einer fleckigen Shorts rumlaufen muss. Vor allem bei den diversen Einkäufen und dem später am Abend folgenden Check-In ist das doch eher unangenehm. Gestärkt nehmen wir die nächsten Kilometer bis zur Kontrolle am Feuerwehrmuseum in Fischbach bei Kilometer 157 auf uns. Unterwegs erreicht mich von Carola die Nachricht, dass sie bei LEL einen schweren Unfall direkt vor sich erlebt hat und dort mit anderen Ersthelfern dem Verletzten geholfen hat. Zum zweiten Mal an diesem Tag geht der Puls stark nach oben, bin ich doch in Gedanken sowieso häufig in Großbritannien und der Riesenaufgabe, die vor den dortigen Startern und vor allem vor Carola liegt. Am Ende stellt sich heraus, dass der Kollege nicht in Lebensgefahr schwebt und Carola bis auf einen verständlichen Schock weitermachen kann.

Da das Museum und somit auch die Kontrolle im Tal liegt, müssen wir auf der anderen Seite direkt wieder steil hinauf. Vorher fragt Rainer eine sympathisch aussehende Frau nach Wasser, und wird direkt in ein Verkaufsgespräch für isotonische Zusätze verwickelt, dass wir nur mit dem Hinweis auf die späte Tageszeit und die restlichen Kilometer abwürgen können. Sie bekommt dennoch ein Lächeln und ein Danke für das Wasser! Sowieso sind auf den drei Tagen die Bewohner der durchfahrenen Gebiete immer bereit, unsere Flaschen mal hier und mal dort aufzufüllen, so dass wir nie einem Mangel unterliegen. Auf der anderen Seite angekommen geht es die nächsten 20 Kilometer durchs wunderbare Wispertal bergab, immer im Schatten der Hügel um uns herum. Bis ins Hotel nach Bingen sind heute nur noch wenige schwierige Abschnitte zu überwinden, der letzte Große ist Presberg. Am Fuße des Anstiegs entscheiden wir erneut, das ich vorfahre und uns schon einmal ins Hotelzimmer einchecken soll, und Rainer in seinem Tempo entspannt nachkommt. So genieße ich die abendlichen Sonnenstrahlen, mache das Kontrollfoto am Weißenthurm und auch das letzte Foto des Tages in Assmanshausen am Zwei-Burgen-Blick. Über einen kleinen Wirtschaftsweg geht es mitten durch die Weinberge dem Rhein entgegen, dem die letzten flachen Kilometer des Tages auf dem Rheinradweg bis Bingen folgen.

Deutlich besser als noch am Großen Feldberg geschätzt komme ich nach 13 Stunden und 50 Minuten um 21 Uhr bei Kilometer 207 in Bingen im Hotel an. Verstaubt und verschwitzt stehe ich in einer mit Marmorboden eingerichteten Empfangshalle und komme mir so unpassend vor wie es nur geht. Der junge Rezeptionist ist jedoch voll auf der Höhe, supernett und hebt die Stimmung gewaltig. Das Fahrrad darf neben die Rezeption in den Frühstücksraum, da der eigentlich vorhandene Keller gerade renoviert wird. Rainer darf sein Rad später sogar mit aufs Zimmer nehmen! Und das obwohl in den Gängen überall Teppich liegt. Ich kann das Hotel auf jeden Fall vollstens weiterempfehlen. Ich schnappe mir meine Schlafsachen aus dem Gepäckträger, Elektronik und Zahnbürste dazu und ab gehts aufs Zimmer. Hier folgt die zweite Überraschung: Es gibt Shampoo, Duschbad sowie Conditioner in der Dusche, und ich glaube so gut haben meine inzwischen doch sehr langen Haare noch nie auf einem Brevet ausgesehen :)) Eine gute Stunde später kommt Rainer, der noch Abendbrot in Bingen gegessen hat, an und freut sich das alles so gut geklappt hat. Nach kurzem Plausch gehen wir schnell schlafen, gegen 3.30 Uhr wollen wir den nächsten Abschnitt beginnen.

Luxus pur!

600er Brevet Hamburg, Couple-Edition

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ sagte einmal Hermann Hesse, und so stehen Carola und ich an einem lauen Freitagabend kurz vor 19 Uhr in Rothenburgsort am Start des diesjährigen Hamburger 600er Brevetsund tauchen ein in die verrückte, wunderbare Welt des Randonnierens. Es sind bekannte Gesichter am Start zu sehen und eine leichte Aufregung zu spüren, selbst die alten Hasen sind immer ein wenig aufgeregt, niemand kann vorhersagen was in den folgenden, bis zu 40 Stunden, alles passieren wird.

Kurz vorm Start: Martin und Carola sitzen als letzte im Chaplin, Martin mit einer Portion Nudel-Spargel Auflauf, Carola mit Schokokuchen und Sahne.

Ich selbst bekomme vor dem Start nichts mehr runter, Abendstart hatte ich seit längerem nicht mehr und bin dementsprechend ordentlich nervös.
Zudem sei gleich am Anfang gesagt: Ich bin nicht überzeugt von der Organisation bzw. Planung des 600ers. Die Strecke ist aus meiner Sicht lieblos geplant, es ist keine Rundtour sondern ein Hin und zurück über viele Kilometer einfach auf der gleichen Strecke und es wird wenig wert auf Natur und Ruhe gelegt. Hauptsache auf glatten „schnellen“ Straßen nach Süden und zurück, möglichst keinen Kilometer zu viel auf dem Rad scheint die Idee gewesen zu sein, der Track hat dementsprechend genau 601 Kilometer. Ich versuche mich mehr oder weniger damit zu arrangieren, Carola musste sich im Vorfeld und auch später im Verlauf des Brevets einiges anhören. Nun aber zum Brevet:

19.00 Uhr fällt der Startschuss, wir hängen uns an die alten Hasen und über Hauptdeich und Zollenspieker geht es rasant mit deutlich über 30kmh gen Westen. Wir sammeln unterwegs noch die Startgruppe des Kieler USC auf, nette Menschen und immer was zu schnacken. Am Ende sind wir in der Gruppe nahezu 30 Mann, auf Anleitung der Radrennfahrer (im Gegensatz zu denen ich ja ein Rennradfahrer bin 🙂 ) wird gekreiselt. Man ist also 2 km vorn und dann die nächste Stunde entspannt im Peloton unterwegs. Die ersten 100 Kilometer verfliegen wie nichts, gegen 22.40 Uhr erreichen wir die Kontrolle in Uelzen, es gibt Wasser und wir essen jeweils eine Banane. Martin hatte unterwegs einen Platten als ich gerade in der Führung war und ist rausgefallen, er fährt mit einer kleineren Gruppe hinter uns. Carola und ich entscheiden das wir erstmal alleine in die Nacht fahren, inzwischen ist es „richtig“ dunkel. Einmal überholt uns das Kieler 7er Gespann und wir hängen uns dran, nach einer Pinkelpause entscheiden wir jedoch sie fahren zu lassen. Obwohl sie deutlich schneller fahren sehen wir sie bis zur letzten Kontrolle immer wieder am Straßenrand und werfen uns gegenseitig aufmunternde Sprüche zu.

Im Kieler D-Zug durch die frühe Nacht
Erste Kontrolle in Uelzen, Tankstelle

Nach dem schnellen Start ist die gemütliche Fahrt durch die Nacht Richtung Wernigerode sehr angenehm, wir schnacken ein bisschen und versuchen die langweiligen Geraden nicht zu lang werden zu lassen. An der Tanke in Vorsfelde unterhalte ich mich mit dem örtlichen „Platzwart“ gegen 3 Uhr nachts, während Carola ihren warmen Kaffee trinkt. Ich mag die Begegnungen mit Menschen unterwegs ja häufig sehr und Carola ist amüsiert über das Lallen und die seltsamen Themen.
Das nächste Highlight ist der Elm, ab Königslutter winden wir uns die ersten Höhenmeter hinauf, gut fahrbar und auf der anderen Seite ein toller Blick auf die Lichter der umliegenden Gemeinden.


Gegen 5 Uhr erreichen wir Wernigerode weit vor unserem Zeitplan, an der Kontrolle treffen wir wieder unzählige Randonneure, auch die drei Rapha-Westlinge werden wir ab hier immer und immer wieder sehen.
Ab jetzt beginnt der spannende Teil der Strecke, von Wernigerode über Braunlage auf den Wurmberg, dann über St Andreasberg Richtung Clausthal Zellerfeld und über Wolfshagen wieder raus aus dem Harz. Ab hier begann Recht unspektakulär auch unser Kampf gegen die Zeit, die wir uns vorgestellt bzw. ich im Hinterkopf hatte. Der Anstieg Richtung Schierke lässt sich super fahren, wir haben abgesprochen das ich an der Bergen vorfahren kann und oben warte. Das lässt uns als Team genug Freiraum, und sorgt für gute Stimmung auf den gemeinsamen Abschnitten. Strava sagt das ich meine persönlichen Bestzeiten an vielen Anstiegen eingestellt habe, Berge machen einfach Spaß. Oben in Schierke treffe ich noch Gerd, seines Zeichens einer der Organisatoren der sächsischen Brevets, der klassische Bennewitzer 600er findet am selben Wochenende statt, Zufälle gibt’s. Dann kommt das Elend, aber so schnell wie es gekommen sind wir auch schon durchgefahren (schlechter Wortwitz!).

Der Anstieg zum Wurmberg hält was versprochen wurde, erst sehr gut zu fahren, der letzte Kilometer dann brutal steil, ich sehe vor mir die Randonneure laufen, will den Fuß nicht vom Pedal nehmen und schaffe es irgendwie oben anzukommen. Und auch Carola ist richtig gut drauf, holt sich die Dreiergruppe noch und ist kurz nach mir oben, so als Flachlandfahrer kann man da ordentlich stolz sein! Das Selfie ist dann etwas gequält, gehört aber dazu.

Kontrollselfie 🙂

Wer denkt “ jetzt nur noch bergab“ vertut sich, es folgen Anstiege um Anstiege, die Harzhochstraße ist dann die Krönung der Streckenführung mit Mottoradbanden, Gegenwind und Rasern, die Motivation ist endgültig dahin. In Clausthal-Zellerfeld machen wir eine lange Pause, vorher habe ich meine Powerbank noch einem Randonneur geliehen den wir an den Kontrollen immer gesehen haben, er hat keinen Strom dabei und sein Handy ist fast leer. Ich bekomme sie an der nächsten Kontrolle von der Tankstellenfrau zurück. Aus dem Harz raus läuft es etwas besser, aber die Beine scheinen hinüber zu sein, die Kilometer gehen trotz Rückenwind mäßig voran, die Sonne knallt und die Stimmung ist gedrückt. Wir werden auch weit in die zweite Nacht kommen, das muss niemand aussprechen, und das Schlafdefizit ist schon jetzt zu hoch. In einem Dorf finden wir einen Sportplatz mit tollen Trainerbänken, gemauert und überdacht, kühl und schattig. Dort schläft Carola erstmal 40 Minuten,die Augen fallen ihr direkt mit dem Absteigen zu. Ich habe wie immer Probleme beim Powernapping und mache die Augen im Sitzen zu, es hilft auch ein wenig.

Danach geht es besser voran, ich höre mir AC/DC an und ab geht’s zurück über den Elm zur vorletzten Kontrolle, da zwischen 417 und 600 keine mehr vorgesehen ist. Dort gibt’s noch einmal das volle Programm, Eis und Currywurst, Cola und Süßes, Unterhaltung mit den Raphawesten. Die beiden Mädels wollen eine Stunde am Autohof schlafen, und dann ordentlich Gas geben, wir entscheiden uns für stetiges Rollen und verabschieden uns. Auf den Straßen die nachts wenigstens gut zu fahren waren, da keine Radwegnutzung nötig und kaum Autos ,ist es jetzt voller Raser, schlechte Radwege und macht kaum Spaß. Bei Hankensbüttel bei Kilometer 480 ist die letzte Verpflegung bis ins Ziel möglich, wir sind kurz vor Ende der Schließzeit dort und kaufen genug essen für drei Tage, welches alles wieder Zuhause landet, aber wir wären im Fall der Fälle nicht verhungert. Die Strecke nach Unterlüß ist ekliges Geläuf, 20 Kilometer durch den Wald, baumgefährdete Raser in einer Tour und einfach keine Lust. Carola überlegt sich in den Zug zu setzen, die Aussicht auf die letzten 100km über diese Strecke ist hart. Ich leiste Überzeugungsarbeit, obwohl selbst ordentlich angekratzt, wir streiten uns ein bisschen und raufen uns dann zusammen, auch das gehört zu den Emotionen dazu, wenn alles glatt geht wäre es ja keine Prüfung. In Unterlüß fahren zum Glück sowieso keine Züge nach HH, egal ob Samstagnacht oder sonstwann. Bis Amelinghausen sind es jetzt 40 Kilometer, die sich lang durch die sonst doch eigentlich hübsche Kulturlandschaft der Heide ziehen, im Restlicht des Tages sieht man noch ein wenig der Umgebung, dann wird es richtig dunkel. Die Müdigkeit schlägt jetzt richtig zu, wir retten uns mit Cola, Gel und Gesprächen bis zur Sparkasse. Dort ist uns alles egal, obwohl es erst 24 Uhr ist legen wir uns unter die tolle Infrastruktur des großen Vorraums und schlafen nochmal 30 Minuten. Carola nennt sich ab diesem Zeitpunkt Queen of Powernapping, nachdem sie erneut beim Absteigen direkt in die Schlafposition übergeht und keine Sekunde verliert. Nach der Pause läuft es wieder etwas besser, die Aussicht auf bekannte Orte und die Einfahrt nach Hamburg heben die Stimmung, die letzten Kilometer in der nun zum zweiten Mal aufgehenden Sonne sind ein absoluter Genuss. Nach guten 33 Stunden sind wir zu Zweit im Ziel, sehr erschöpft, vor allem mental, aber glücklich und zufrieden. Solche Momente mit dem wichtigsten Menschen im Leben zu teilen, aber auch die „Entbehrungen“, das geerdet werden und zu sehen zu welchen Leistungen der Körper und Geist in der Lage ist… Es war eigentlich eine tolle Tour!

Die ausgefüllte Brevetkarte
Der Morgen danach: Finish!

600er Brevet: Berlin-Darß-Berlin

Am Samstag war es wieder einmal so weit, dass 600 Kilometer Brevet, auf klassischer Strecke zum Darß und zurück, stand an. Wie immer in diesen besonderen Zeiten gab es keinen Massenstart, sondern die Möglichkeit sich das Startdatum- sowie die Uhrzeit in einem gewissen Zeitfenster auszusuchen. Alleine wäre ich in diesem Jahr wohl nicht mehr auf die lange Strecke gestartet, doch glücklicherweise hat mich Maik nach langer brevetfreier Zeit angesprochen und so musste ich nach gefundenem Termin nur noch zusagen und mich anmelden. In diesem Jahr sind wir durch Corona noch nicht einen Brevet zusammen gefahren, das letzte Zusammentreffen war beim Zeitfahren HH-B im Oktober, ich freute mich also sehr und es gab genug zu erzählen.

Der grobe Plan sah wie folgt aus: Freitag um 4 aufstehen, 6 Stunden Arbeit, direkt von dort in den Zug nach Nauen, dort das Kuota (nicht mehr benutzt seit anderthalb Jahren, keine Pedale, kein Sattel, kein Licht, keine Kassette und Kette vorhanden) fahrbereit machen und schließlich am Samstag früh um 6 Uhr in Berlin am Hauptbahnhof an der Startlinie stehen.

Glücklicherweise habe ich noch eine Kassette sowie eine Kette zu Höchstpreisen erwerben können, so dass der Antrieb am Kuota schnell auf Vordermann gebracht und die Pedale (auch neu) ebenfalls fix getauscht waren. Dazu Licht von Papa ausgeliehen, nagelneue Pedale angeschraubt und dann der Schock: Meinen guten Brooks Sattel in Hamburg vergessen, also keinen eigenen Sattel vor Ort. Nach kurzer Überwindung habe ich einen Trekking-Sattel von meiner Mutter gemopst und angebracht, aufgrund von ähnlich schmalen Sitzknochen, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt, aber (Disclaimer!) sie starb dann doch ein bisschen, zusammen mit einigen Nerven in unangenehmen Körperregionen. Genug davon.
Nachdem alle Taschen am Rad waren, dazu etwa ein Kilo Maltodextrin für die Energieversorgung sowie genug Gels für zwei Tage, Süßigkeiten und ähnliches in diese gewandert waren, konnte ich beruhigt schlafen gehen. Klamotten waren diesmal einfach gewählt: Jeweils ein langes und ein kurzes Radtrikot, kurze durchlöcherte Hose plus Shorts zum drüberziehen, einmal Kniewärmer, Regenhose und Windjacke für die Nacht. Weniger zum Anziehen hatte ich wohl noch nie dabei.

Samstag früh klappte alles wie geplant, der Zug um 5 war pünktlich und ich kurz vor 6 am Hauptbahnhof, Maik wartete schon auf mich. Ein kleines Hallo, ein bisschen die Aufregung rausgeplaudert und dann gings mit dem Startfoto auch schon los. Dank gebührt den Veranstaltern, vor allem Ingo: Nur Minuten nach der Anmeldung hatte ich Track und Infos per Mail, die Fotos konnte ich an den Kontrollen direkt per Whatsapp an Ihn senden, fantastische Organisation und Rahmenbedingungen.

Da wir uns für einen Frühstart entschieden hatten war das Verlassen Berlins Richtung Norden eigentlich recht stressfrei, nur die roten Ampeln alle 300 Meter waren nervig. Nach 10 Kilometern hatten wir einen Schnitt von 19 Km/h und ungefähr 200 Mal ein- und ausgeklickt. Ab Hennigsdorf wurde das dann besser, die Strecke angenehm und mit wenig Verkehr, als Highlight lief in einem Wohngebiet ein Riesen-Wildschwein (ich schwöre, das war größer als ich!!!) etwa 10 Meter parallel zu uns, als ob es gerade beim Bäcker Brötchen geholt hatte und nach Hause wollte. Kein Stress oder irgendeine Reaktion auf Autos oder uns, ganz kurios.

Die folgenden Abschnitte durch Marwitz, Vehlefanz und Kremmen sowie nach Norden raus zur ersten Kontrolle in Lindow (Mark) waren mir dann sehr bekannt, sind mein Vater und ich doch auf unzähligen Runden schon dort gefahren. Die Straßenoberfläche war meistens gut, es gab schützenden Wald und wenige Autos, man konnte es schön rollen lassen. In Lindow (Mark) hatten wir nur schnell das Kontrollfoto geschossen und eine Banane inhaliert, um uns dann auf die geflickte Straße nach Rheinsberg zu begeben. Ein erster Vorgeschmack auf was uns noch erwarten würde.

Hinter Rheinsberg begannen dann die ersten kleinen Hügel, die Strecke ging langsam in die wunderschöne Seenlandschaft Mecklenburgs über, die die teils sehr schlechten Straßenverhältnisse doch gut ausgleichen konnte. Zwischen Mirow und Möllenhagen geht es lange durch den Müritz-Nationalpark, häufig auf zweispurigen, gut zu fahrenden Plattenwegen, immer hoch und runter. Uns kam es so vor als hätte der Verkehr auf diesen Straßen zugenommen, allerdings sind dort immer noch die Radfahrer dominierend, welche auch bloß die Wege auf voller Breite versperren und Klingeln gerne mal ignorieren. Dort hatten wir die erste längere Pause mit belegten Broten gemacht, ein bisschen im Schatten gesessen und gequatscht. Sowieso haben wir uns die ersten 150 Kilometer fast immer etwas zu erzählen gehabt, was die Zeit angenehm schnell vergehen ließ. Kurz nach der Pause kam uns mein Papa entgegen, der zurzeit eine Reha in Plau am See macht und am Wochenende seine lange Radtour um die Müritz gelegt hatte. Eine tolle Überraschung, auch wenn wir nur 5 Minuten geredet haben, ein Foto musste noch gemacht werden und dann ging es weiter, die Mücken hatte uns da auch schon ordentlich zerstochen.

Bei Kilometer 170 war dann die erste Bäcker- Supermarktpause angesagt, Eistee, Cola und Kuchen standen auf dem Menü. Wir haben diesmal insgesamt sehr entspannte Pausen ohne Druck eingelegt, meistens wusste ich nicht einmal wie lange die Pause eigentlich war, einfach nur Genuß pur und immer nach Gefühl, genau wie beim Fahren. Inzwischen war der Wind dann doch stärker aufgekommen und bließ uns immer von Vorn ins Gesicht, vor allem auf den folgenden langen graden Straßen Richtung Gnoien hat uns das ordentlich Körner gekostet. Durch regelmäßige Abwechslung im Windschatten und der ruhigen Fahrweise hatten wir diese Herausforderung noch recht gelassen hinter uns gebracht. Allerdings ist dies auch einer der schönsten Abschnitte, die tollen schmalen Wege hinter Salem, der Blick auf den Kummerower See, die mehr oder weniger sanften Hügel und ringsherum immer entweder saftiges Grün oder goldenes Korn. Landschaftlich gibt es da die Höchstpunktzahl!

Kurz vor Barth wollte dann Jan aus Stralsund auf uns treffen, den ich vorher informierte, dass wir an diesem Tag über den Darß fahren würden. Beim ersten 600er vor 4 Jahren hatte er uns kurz vor Barth gesehen, und mir auf Strava geschrieben ich solle doch beim nächsten Mal Bescheid geben. Wir kannten uns nur über Strava, schon fast seitdem ich mit dem Radfahren begonnen habe und mit Strava anfing. Da wir ja keine Gruppe hatten habe ich einige Wochen vor dem Start also den Buschfunk aktiviert, und der Termin passte wunderbar. Gerade als wir zwischen Bad Sülze und Barth so richtig im ersten Tief der Tour zu versacken drohten kam er uns entgegen, zeigte uns den Jungbrunnen in Kenz und rettete wohl den gesamten Abend damit. Das frische, kalte Wasser zum Selbstpumpen, die dreckigen Arme und Beine waschen, die langen Haare fluten und einfach ein bisschen Pause genießen, toll war es dort! Jan war mit seinem Monstercrosser unterwegs, 2.25 Zoll Breite Bereifung, und ließ uns dennoch spielend an den Hügeln stehen, nahm dann aber auch hinter Zingst viel Rücksicht auf uns, so dass wir einen schönen Abend an der Ostsee verbringen konnten. Die Strecke war leicht geändert im Vergleich zum letzten Mal, der neue Teil war gelinde gesagt großer Mist, außer vlt. für Jan`s Rad. Am Ende sollten wir vor Ahrenshoop einen Pferdeweg nehmen statt den bestens ausgeschilderten Radwanderweg…wir taten dies natürlich. Nicht das letzte Mal das wir uns fragten, wieso unbedingt Gesundheit und Material auf die maximale Belastungsprobe gestellt werden muss (Nach dem Motto „wem die 600 Kilometer nicht reichen, der bekommt noch Sand, Waldweg, Kopfsteinpflaster und Platten“). Die darauffolgenden Kilometer im Sonnenuntergang bis Ribnitz-Damgarten waren dann immerhin der Traum schlechthin, geile Radwege und Straßen, Ferienfeeling am Strand und perfekte Lichtverhältnisse. Dort an der Tankstelle gab es eine extra für uns warmgemachte Bockwurst, Brötchen und nochmals Getränke zum Auffüllen, sollte es doch jetzt eine Nacht durch MV gehen. Da wird bekanntlich alle Verpflegung benötigt die es nur geben kann. Nachdem die langen Sachen wieder angezogen und die Zähne geputzt waren gab es den Abschied von Jan, der wieder Richtung Stralsund musste, und den Start in einen lauschigen Sommerabend, immer Richtung Süden, Richtung Zuhause. An immer mehr Feldern machte sich schon gegen 23 Uhr aufsteigender Nebel durch kleine „Kältefelder“ bemerkbar, eine bemerkenswerte Auffälligkeit im Halbdunkel. Ab dem Zeitpunkt gibt es auf der Strecke nahezu keine Autos mehr, man ist meistens mit sich selbst allein, die Gespräche wurden weniger und jeder hing seinen Gedanken nach, während die Kilometer gut vonstatten gingen.
Mitten im Wald etwa 15 Kilometer vor Teterow hatte Maik dann einen Platten, wollte aber erst noch ins nächste Dorf fahren um dort im Lichtschein den Schlauch zu wechseln, während ich mit bangem Blick sein Hinterrad auf der kurzen Abfahrt im Blick hatte. Da macht sich seine jahrzehntelange Radsporterfahrung doch sehr bemerkbar. Der Schlauch war schnell gewechselt, zwei Katzen hatten uns dabei Gesellschaft geleistet und ein bisschen neugierig geschaut. Letztendlich war das die einzige Panne mit den Reifen, und das bei einem nagelneuen 4Seasons von Conti. Meine alten, rissigen und von Cuts übersäten Mäntel haben hingegen wiedermal alles gegeben und mich vor jeder Luftlosigkeit (An dieser Stelle bin ich fast vor Lachen vom eigenen Sitz gefallen) bewahrt. In Teterow machte sich dann die Müdigkeit gegen 1 Uhr nachts schon stark bemerkbar, nach fast 400 Kilometern und dem Aufstehen um 4 Uhr in der Früh. Wir entschlossen uns dennoch weiterzufahren, wohlwissend das nun die Teterower Schweiz mit wirklich vielen (kein Witz!) Höhenmetern auf uns wartete. Dazu gab es zwischen den Dörfern häufig zweistellige Kilometer ohne Zivilisation, die Strecke schien auf dem Garmin förmlich festgenagelt zu sein, die Zahlen sich quälend langsam zu verändern. Um drei Uhr mussten wir der Anstrengung Tribut zollen, Maik war schon zweimal fast auf dem Rad eingeschlafen, und auch mir viel es immer schwerer die Augen auf der Straße zu behalten. Da in den Dörfern keine Bushaltestellen zu finden waren, entschieden wir uns am Ende für zwei freistehende Bänke im Nirgendwo (eine aus Holz und eine aus Stein) und eine halbe Stunde Schlaf. Maik war innerhalb von Sekunden eingeschlafen, ich döste ein bisschen mit geschlossenen Augen und hörte den Kühen und Mücken ein wenig zu. Ein paar Minuten muss ich auch eingenickt sein, ich kann mich jedenfalls nicht mehr an die ganzen 30 Minuten erinnern. Wir brauchten auch keine Angst wegen der Kälte zu haben, es war selbst auf der Steinbank warm genug um ohne Probleme wieder aufzustehen. Die halbe Stunde hat soweit geholfen das wir entspannt weiter mit der Dämmerung im Rücken uns die Hügel hinaufquälen konnten. Natürlich kamen in allen folgenden Dörfern schöne große Bushaltestellen mit Schlafmöglichkeiten, aber wer weiß ob wir dort sonst je angekommen wären. Früh um 5 war Malchow erreicht, 418 Kilometer auf der Uhr. Leider hatte der Schlaf bei mir nicht gereicht um wirklich fit in den Tag zu starten, so dass wir in einem kleinen Dorf noch einmal eine halbe Stunde in der aufgehenden Sonne mit geschlossenen Augen verbrachten, Maik auf der Bank und ich auf dem warmen Asphalt, bequemer geht schon, aber geholfen hat es trotzdem. Es folgte der wohl zwiespältigste Teil der gesamten Tour, das Mahnmal zum Todesmarsch im Belower Wald. Da ich Kultur und Erinnerung unheimlich interessant und wichtig finde, habe ich eine kleine Information zum Hintergrund selbiger gesucht und will diese nicht vorenthalten:

Quelle: https://www.below-sbg.de
Am 21. April 1945 trieb die SS mehr als 30.000 Häftlinge des KZ Sachsenhausen, unter ihnen Frauen und Kinder, zu Fuß Richtung Nordwesten auf einen Todesmarsch. Hunderte starben unterwegs oder wurden von der SS erschossen. Vom 23. bis zum 29. April wurden mehr als 16.000 Häftlinge im Belower Wald nahe Wittstock zusammengezogen. Sie lagerten ohne Unterkunft und Versorgung im Wald, mit Stacheldraht umzäunt und von einer SS-Postenkette bewacht.
Bereits 1945 wurde auf dem nahegelegenen Friedhof in Grabow ein Gedenkstein für 132 im Belower Wald verstorbene KZ-Häftlinge errichtet. Der erste Gedenkstein am historischen Ort des Waldlagers folgte 1965. Zehn Jahre später wurde die heute noch vorhandene Mahnmalsanlage eingeweiht. Seit 1976 kennzeichnen 120 einheitliche Gedenktafeln die Routen des Todesmarsches zwischen Oranienburg und Schwerin.

Es fällt mir schwierig die passenden Worte dazu zu finden, weil die Strecke entlang des Mahnmals sehr bedrückend ist. Der dunkle Wald und die unheimliche Stille des Ortes verursachen jedes Mal Gänsehaut. Nichtsdestotrotz ist die Wegbeschaffenheit extrem schlecht, Kopfsteinpflaster aus dem letzten Jahrhundert über mehrere Kilometer, teilweise ist nur Schieben möglich, es ist wieder einer der Momente in denen man sich fragt wer die Materialkosten an so einem Rad bezahlen soll und wieso man nicht ein wenig ressourcenschonender planen kann, verkehrsarme Wege sind in der Prignitz durchaus nicht super selten. Ich würde gerne solche Orte mit dem Respekt besuchen, den sie verdient haben, und nicht scheußlich fluchend durchqueren. In Wittstock dann gab es endlich den ersehnten Frühstückskaffee und jeweils zwei belegte Brötchen für Maik und mich, die Lebensgeister waren endlich wiedererweckt, noch 140 Kilometer zu fahren, das würde sich gut ausgehen mit einem frühen Finish. Denkste, sagte sich da wohl der Pannenteufel, denn 10 Kilometer später bemerkte ich einen losen Sattel, ansich nichts Schlimmes. Beim genaueren Hinsehen stellte sich allerdings heraus, dass sich durch die Lockerung der Sattel nach hinten verschoben hatte, und durch mein Gewicht und das der Tasche die einzige Schraube der Sattelklemmung einfach abgerissen wurde. Mir blieb nichts übrig als erst einmal im Stehen weiterzufahren, leichter gesagt als getan, in diesem „Modus“ brannten nach kürzester Zeit die Oberschenkel, aber vor allem auch die Handflächen und Fußsohlen durch den hohen Druck der auf Ihnen lastete. Gleichzeitig rief ich Zuhause an, das ja nur 30 Kilometer entfernt lag, um nach der Möglichkeit für ein Ersatzrad zu fragen. Glück das mein Vater ein schweres „Reiserennrad“ hat, das mir ungefähr passt (bis auf den Sattel, aber einen Tod muss man sterben). Nach anfänglicher Überlegung das Brevet abzubrechen konnte ich dann also darauf hoffen das Ersatzrad in Wusterhausen, etwa 25 Kilometer später, in Empfang nehmen zu können und damit die letzten 80 Kilometer abzureißen. Meine Mutter hat es tatsächlich nach dem Frühstück ins Auto geladen und ist uns die Kilometer entgegengefahren, um das Finish zu ermöglichen. Solche Momente sind mit Emotionen fast nicht zu beschreiben, das Auf- und Ab der Gefühle nach mehr als 24 Stunden im Sattel ist mit keiner anderen Situation zu vergleichen dich ich kenne.
Nach dem Tausch und dem Umschrauben der Pedale, des Garminhalters und der provisorischen Einstellung des Sattels wurde das kaputte Rad ins Auto gelegt und das neue Rad bestiegen, schon konnte es weitergehen. Etwa eine Stunde hat uns der Spaß am Ende wahrscheinlich gekostet, durch Telefonate, Wartezeit und Schrauberei. Was dann an Strecke folgte, und ich hoffe das Ingo mir die Wortwahl verzeiht, ist einfach nur ein Witz gewesen. Zuerst 10 Kilometer auf der B5 vor Friesack, wo die Autos mit über 100 km/h auch bei Gegenverkehr überholen und noch nie ein Radfahrer gesehen wurde, statt parallel auf gleicher Streckenlänge und gutem Asphalt fast keinen Verkehr zu haben. Da hätten wir auch die A19 ab Wittstock nehmen können, der Standstreifen ist sicherlich ungefährlicher. Danach dann die Plattenwege bei Teufelshof / Kienberg, die schon beim 400er vor zwei Jahren im Plan standen, dort jedoch am Anfang, und selbst da schon grenzwertig zu fahren waren. Es handelte sich um 3 Kilometer mit zwei Spuren, auf denen die Platten Spalte bis 10 Zentimeter Höhenunterschied aufweisen, und selbst Autos auf Schritttempo reduzieren. Diese Stelle einzubauen ist für meine Begriffe, und es mag da andere Meinungen geben, ich verlange nicht, dass alle mir zustimmen, Radfahrerfeindlich, gesundheitsschädigend und im schlechtesten Fall bei Dunkelheit und nach 560 Kilometern mit Übermüdung einfach gefährlich. Dabei gibt es so schöne Wege ringsum, man muss es einfach nicht verstehen. Maik ist fast explodiert, dachte ich habe die Strecke aus Witz so geplant, bis er gemerkt hat das auch mir die Tränen vor Schmerzen und dem schlechten Geschmack beim Gedanken an den Streckenersteller in den Augen standen. Jemandem mit Absicht Schmerzen zuzufügen ist wohl eine Grundvoraussetzung wenn man Menschen auf eine 600 Kilometer lange Tour schickt, daran ist auch nicht zu rütteln und das ist okay. Auch wenn es sich lohnt weil dahinter eine traumhafte Strecke wartet, ist das nachvollziehbar. Nichts davon ist hier der Fall, wirklich kein Argument kommt in den Sinn, egal wie lange man drüber nachdenkt und sich den Kopf zerbricht. Wie gesagt, es gibt Menschen denen gefällt der Schmerz, die Herausforderung, vlt. die „legendäre Oberflächenbeschaffenheit“ der Brandenburger Strecken, aber irgendwo ist eine Grenze zu ziehen. Andere Meinungen höre ich mir gerne an, akzeptieren kann ich letztendlich keine davon.

Die letzten Kilometer durch Schönwalde, den Spandauer Forst und die gesamte Innenstadt war dann bei 30 Grad, vielen Autos und Menschen am Sonntagnachmittag nicht anders zu beschreiben als höllisch anstrengend, langsam und zermürbend. Selbst die Currywurst für 9.50 € in Schönwalde konnte da nur kurz Abhilfe schaffen. Am Ende waren wir etwa 36 von erlaubten 40 Stunden unterwegs, haben eine Stunde geschlafen, etwa eine Stunde mit Reparaturen rumgebracht, eine Stunde in Berlin an Ampeln gestanden (2 Stunden für 20 Kilometer!) und etwa 8 Stunden Pausen gemacht, immer wenn uns danach war.

Final standen statt 606 etwa 625 Kilometer auf dem Garmin, der im übrigen ohne einmal aufzuladen und trotz Dauerbeleuchtung im Ziel noch 40 % Akku besaß. Es handelt sich um den Edge 1030 Plus, und wenn die Leute etwas von Wahoo oder Karoo erzählen kann ich darüber nur Müde lächeln (  ): Ich bin dankbar das mir Carola den geliehen hat, ich keine Probleme mit dem Akku, der Streckenführung oder sonst irgendetwas hatte. Wer das Nonplusultra sucht, der findet es hier. Leider bekomme ich kein Geld für den „Produkttest“, und leider ist er mir selbst auch deutlich zu teuer. Aber falls mal jemand einen neuen Radcomputer sucht, ihr wisst schon.

Ein Novum für mich war die Nutzung von nicht nur einem neuen Sattel, sondern gleich deren zwei, zusammen mit zwei verschiedenen Rädern auf einem Brevet. Technisch gesehen habe ich übrigens nicht gefinisht, da ich eine kleine Hilfeleistung bekommen habe und im Stehen sicherlich die 30 Kilometer bis Nauen nicht geschafft hätte um dann erst das Rad zu tauschen. Was solls, Ingo meinte vlt gibt’s ein Auge zu, ansonsten habe ich es halt nur für mich beendet und für den inneren Schweinshund.

Am Ende gilt der Dank vor allem meiner Mutter, Jan, Ingo und vor allem Maik, mit dem ich trotz unserer Unterschiede tagelang die Zeit verbringen kann ohne auch in schlechten Situationen böse Worte zu verlieren. Danke dafür.
Danke auch für alle Kommentare, Kudos und Motivationen unterwegs, ich bin jedes Mal begeistert was die Fahrradgemeinde ausmacht. Und danke fürs durchhalten bis hierher.

Liebe Grüße, euer Ole.

Ötztalrundfahrt

Superrandonnée Ötztalrundfahrt – Meine Reise in eine andere Welt

Vorbetrachtung:

Jedes Jahr im Winter macht man als Rennradfahrer Pläne für die neue Saison, surft im Internet, liest Berichte um Berichte und träumt von der warmen Sommerzeit draußen auf dem Rad, in Gegenden welche durch ihren mystischen Ruf eine besondere Anziehung ausüben. Nachdem mein Fokus sowieso stark auf die Brevets ausgelegt ist kam ich an der Institution „Superrandonneé“ nicht vorbei, und hatte mir schon öfter gesagt: das machst du irgendwann! Eine Superrandonnee ist im Gegensatz zu den normalen Brevets sehr einfach geregelt: es gibt keinen festen Termin, man meldet sich an, sucht sich ein Datum aus, bekommt die hübsche gelbe Kontrollkarte zugeschickt und das wars. Weiterhin fährt man dann zwischen 600 und 618 Kilometern auf dem Rad in 60 Stunden. Die Besonderheit hieran sind die Höhenmeter, mindestens 10000, in Worten zehntausend, müssen bewältigt werden, meistens noch ein paar mehr. In Deutschland gibt es zwei dieser besonderen Touren, in Freiburg die „Belchen Satt“-Runde, und seit letztem Jahr südlich von München die „Ötztalrundfahrt“.

Allerdings hatte ich im Winter nicht gedacht, dass ich die Zeit und auch die Form haben würde, um eine der beiden Touren anzugehen. Andererseits kommt es meistens anders als man denkt, und so kam es im Frühjahr auf einem der ersten Brevets zu der folgenschweren Unterhaltung mit Rainer aus Berlin, der dieses Jahr die zweite Superrandonnee in München angehen wollte, aber noch so ein bisschen einen Mitfahrer gesucht hat. Etwas gedankenlos sagte ich sofort, dass ich Lust hätte und wenn wir einen Termin finden würden sehr gerne mit ihm starten würde. Aus diesem kleinen Gespräch wuchs die fixe Planung, während der wir schnell einen Termin fanden und uns einige waren mit Anfahrt, Übernachtung und allem anderen. Alles war absolut unkompliziert, einfach genial um entspannt auf die Reise zu gehen.

Prolog:

Und so kam es, dass ich am Montag, den 15.07.2019 um 9 Uhr in Nauen in einen Zug gestiegen und einmal durch Berlin gefahren bin, um am Bahnhof Königs Wusterhausen zu Rainer ins Auto zu steigen und auf die lange Anreise zu gehen. Zu dem Zeitpunkt war ich noch relativ entspannt, hatte auch erstmal einen riesigen Rucksack mit allen Fahrradsachen dabei die ich so Zuhause noch gefunden hatte, ohne drüber nachzudenken was ich denn wirklich mit auf- und ans Rad nehmen würde. Mal wieder wurde schnell klar, dass lange Autofahrten einfach keinen richtigen Spaß machen, aber durch die vielen kleinen Geschichten die Rainer so erzählen kann (Wie gut man einen Menschen doch in nur 4 Tagen kennenlernen kann, das erlebt man auch nur auf solchen Abenteuern) ging die Zeit schnell rum, und gegen 18 Uhr kamen wir im Hotel in Deisenhofen an, nur einen Kilometer vom Start entfernt. Ausgepackt, die Räder eine steile Wendeltreppe hochgeschleppt, und dann noch schnell im Supermarkt ein paar Süßigkeiten und Knabberzeug gekauft und auf dem Rückweg noch eine Pizza mitgenommen. In der Abendsonne saßen wir auf dem Balkon, Pizza auf dem Schoß und Bier auf dem Klapptisch, und genossen einfach dieses kleine Kribbeln, was sich so langsam einstellte. Meine Sachen für den nächsten Tag wurden schon auf einen Bügel gehängt, um am nächsten Morgen nicht mehr nachdenken zu müssen. Die Überlegung für mein Gepäck viel mir hingegen deutlich schwerer, letztendlich entschied ich mich für Schlafsack und Biwacksack, meine Gore-Winterjacke, Daunenjacke, Regensachen, drei paar Socken (Dick, Dünn, Regen), und dazu Winterhandschuhe, lange dünne Handschuhe und Kurzfingerhandschuhen. Beinlinge, Knielinge, Armlinge, kurzes Trikot, kurze Bibshorts und Windweste in Signalfarben komplettierten meine Garderobe. Für die Energie hatte ich Maltodextrin dabei, abgewogen für immer zwei Flaschen, unzählige Gels von denen ich nur eins gegessen habe, ein paar Schokoriegel, Gummibärchen und kleine Salamis für den herzhaften Geschmack. Allerdings hatten wir uns sowieso vorgenommen ruhig zu fahren, und beim Essen keine Kompromisse einzugehen 😉 . Eine große Powerbank mit 20000 mAh, drei Schläuche und eine fast komplette Werkzeugkiste kamen noch mit ans Rad, und somit hoffte ich allen Schwierigkeiten gewachsen zu sein. Insgesamt wog mein Rad am Start ungefähr 18 Kilo, am Ziel dann anderthalb weniger durch die verbrauchte Energie in Form des Getränkepulvers.

1. Tag:

Komischerweise ist die erste Nacht im Hotel fast die Nacht in der ich am wenigsten schlafe, weil ich große Angst um die bayrischen Wälder habe, durch die sich Rainer konsequent sägt. Normalerweise stört mich sowas ja wenig, durch die Aufregung bin ich aber wohl eh nicht in der Lage tief zu schlafen, und so bin ich früh noch etwas müde. Nach einem super leckeren Frühstück packen wir die letzten Sachen ein und pünktlich kurz vor 9 sind wir am Bahnhof, Kontrollfoto mit der Bahnhofsuhr, und los geht es.

Das in Bayern viel Geld Zuhause ist mag vielleicht ein Klischee sein, dann jedoch eines was in sich stimmig ist. Über sehr gut ausgebaute Radwege führen die ersten Kilometer an einer wenig befahrenen Straße mitten durch Nadelwälder, perfekt zum einrollen und um das „On-the-Road“-Feeling richtig aufzusaugen. Die Berge sind noch gar nicht zu sehen, und so fahren wir durch kleine Dörfer mit wunderbaren Gehöften, schnuckligen Kirchen und vor allem vielen kleinen, mit einem aalglatten Asphalt ausgestatteten Sträßchen mitten hinein ins Alpenvorland. Bedingt durch die Streckenführung rollt es sich noch sehr gut, die Höhenmeter sind zu dem Zeitpunkt eher zu vernachlässigen, erst kurz vor der ersten Kontrolle am Achensee bei Kilometer 75 geht es wirklich berghoch, noch aber entspannt mit 3 bis 4 Prozent Steigung. So erreichen wir nach etwas mehr als drei Stunden die Bäckerei Adler, machen das erste Kontrollfoto und essen ein Stück Kuchen (Othello-Torte: Die Verkäuferin erklärte einem Rentnerehepaar vor mir was das ist „Schokotorte mit Nougatfüllung und…“ Gekauft!). Rainer mit Erdbeertorte und (zu dem Zeitpunkt noch alkoholfreiem) Bier, und einem Kaffee.

Weiter geht es am Achensee entlang, einer wunderschönen Gegend. Der See funkelt und glitzert in der Sonne nur so vor sich hin, mit den umliegenden Bergen ein klasse Panorama. Passend dazu führt unser Radweg immer am See entlang, ohne Autoverkehr, nur mit den vielen Touristen, die nur selten Platz machen wollen. Das tut unserer guten Laune aber keinen Abbruch, und schon geht es über eine schnelle Abfahrt rein ins Inntal, wo wir noch einmal 30 eher flache Kilometer mit nur kurzen Steigungen zu überwinden haben. Bis hierhin haben wir gerade einmal 1200 Höhenmeter auf 110 Kilometern überwunden, was unserem Schnitt richtig gut tut, aber die Angst vor dem was dann noch konzentriert auf uns zu kommt etwas erhöht.

In Volders biegen wir aus dem Tal ab, und stehen urplötzlich in einer Wand mit 17-19% Steigung, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe. Der Brenner soll ja doch eher flach sein habe ich mir sagen lassen, gut zu fahren…
Aber wir nehmen ja die alte Römerstraße Richtung Brenner, und das habe ich in meiner Vorbereitung völlig übersehen. Und so kämpfen wir zum ersten Mal richtig gegen die Berge, ich fahre vorne weg, Rainer immer ein paar Kurven hinter mir, und so wird es auch in allen anderen Bergen verlaufen. Ich habe nämlich vergessen dass ich beim letzten Mal Kassette wechseln hinten als größtes Ritzel ein 25er montiert hatte, und bezahle recht bald mit niedrigen Trittfrequenzen dafür. Damit ich wenigstens einen einigermaßen runden Tritt beibehalten kann muss ich einfach mehr Kraft aufwenden und schneller fahren, auch wenn ich manchmal gerne noch etwas ruhiger am Berg fahren würde, Zeit ist genug. So bin ich vorne weg, und warte an einem Brunnen in einem kleinen Bergdorf, kühle die Mütze und Buff, lege die Arme ins Wasser und überschütte die dampfenden Beine mit kühlem Nass. Die nächste Kontrolle ist in St.Peter am Brenner, bei Kilometer 137. Bis dorthin kämpfen wir uns stetig ansteigende Straßen mit einigen kurzen Abfahrten hinauf, während die Nachmittagssonne uns so richtig schwitzen lässt. Irgendwann biegen wir dann ins Tal und auf die Brennerstraße ab, die endlich so verläuft wie ich es im Kopf hatte. Nach einigen sanft ansteigenden Kilometern biegt Rainer Richtung Bäcker ab und ich habe nichts einzuwenden. Mozzarella mit Tomate, und eine Tirola Kola, die muss ich einfach probieren. Dazu kaufe ich im Supermarkt gleich eine kleine Dose Red Bull für die anstehende Nacht, als Notfalldoping sozusagen. Kleiner Spoiler, die Dose trinke ich am hellichten Tag kurz vor unserer Ankunft in München, und schleppe sie völlig umsonst alle Pässe hoch und wieder runter.

Nach der Pause geht es entspannt weiter, die letzten Kilometer auf den Brenner sind wieder etwas steiler aber schön zu fahren, und die nebenan verlaufende Brennerautobahn vermittelt einen Eindruck davon, was die Menschen bautechnisch leisten können. Unter den riesigen Betonsäulen kommt man sich als einzelner Mensch ganz klein vor, ein Gefühl das die großen Pässe mir später ebenso vermitteln werden.
Oben am Brenner regiert der Kommerz, überall Schilder mit „Rabatte, Ausverkauf, Schnäppchen..“. Wir fahren schnell weiter, nicht einmal die italienische Landesgrenze wird so richtig wahrgenommen. Dafür läuft die Abfahrt nach Sterzing sehr gut, bis wir feststellen dass der Radweg den wir genommen haben sich von der Straße wegbewegt, und letztendlich völlig verschwinden wird. Also fahren wir einen Wirtschaftsweg entlang, und schieben am Ende noch 100 Meter um wieder auf die Bundesstraße zu gelangen und auf unserem Track zu bleiben. Schade eigentlich, an so vielen Stellen gibt es neugebaute Radwege, der Track jedoch ist eher auf Straßenfahren angelegt, so dass wir mehrmals kleine Abweichungen hinnehmen müssen. Hinter Sterzing geht es auf dem Eisacktalradweg entlang immer Richtung Brixen, leicht abschüssig und komplett neu angelegt. Wir scherzen öfter dass die Italiener wohl gesehen haben das wir dieses Jahr starten und daraufhin ihre Betonmischer angeworfen haben um uns einen Radweg der Extraklasse zu bieten. In Brixen bei Kilometer 200 gibt es zum Abendessen natürlich eine Pizza, la dolce vita sozusagen. Früh um 9 Uhr in München losgefahren und Abends um 20 Uhr in Italien Pizza essen… Wieviele Menschen können das schon von sich behaupten, ein unbeschreibliches Gefühl schon zu diesem Zeitpunkt. Zur Pizza gibt es für Rainer ein Bier und für mich einen Apfelsaft. Dazu muss man Wissen das Rainer sich als „Biertrinker mit Radfahrproblem“ bezeichnet, ziemlich treffend nach meiner eingehenden Analyse nach der Tour. Mit vollen Mägen geht es in der Abendsonne Richtung Waidbruck, immer weiter auf dem Radweg, links von uns die Eisack mit ihren reißenden Fluten, ringsum die hohen Berge. Wir genießen es noch ein wenig die Räder rollen zu lassen, denn ab Waidbruck beginnt der anstrengende Teil unserer Reise. Haben wir bis dorthin gut 2500 Höhenmeter erledigt, folgen auf den nächsten 220 Kilometern um die 7000 Höhenmeter, Pass an Pass an Pass.

Mit dem letzten Abendlicht beginnen wir den Anstieg auf den Ritten Richtung Klobenstein, der nächsten Kontrollstelle. Der aufgehenden Mond leuchtet uns den Weg während die Dynamolichter eher vor sich hin flackern, bei unserem Tempo nicht verwunderlich. Nach einer Stunde fällt mir auf dass nur noch die Hälfte des Mondes zu sehen ist, und Rainer erzählt mir das heute doch eine partielle Mondfinsternis stattfindet, und wir sitzen gleich in der ersten Reihe, toll. Durch eine kleine Baustelle schieben wir unsere Räder, und danach beginnen die auf der Website angekündigten steilen Abschnitte. Der Ritten ist nicht sehr hoch, nur 1300 Meter, aber immer wieder bis 16 Prozent steil. Wir kämpfen uns keuchend hinauf bis Klobenstein, ich höre Rainer hinter mir eher als das ich ihn sehe. Dafür fahren kaum Autos, und bis auf unsere Geräusche ist es völlig still. In Klobenstein ziehen wir uns lange Sachen an, um die Abfahrt ins Sarntal in der Nacht ohne zu frieren zu absolvieren. Hinter Klobenstein kommen allerdings erstmal noch 150 Höhenmeter, und kurz vor der Passhöhe steht eine Kirche die hell beleuchtet ist und einen tollen Anblick bietet, um einen Moment innezuhalten. In der Abfahrt reihe ich mich hinter Rainer ein, er hat eine Lupine Kopflampe auf dem Helm montiert und leuchtet uns die Serpentinen aus. Allerdings muss ich beim Anbremsen aufpassen, Rainers Scheibenbremsen verzögern beißend, und ich muss deutlich früher in die Eisen gehen um ihn nicht abzuräumen. Zur Erholung ist die Abfahrt somit nicht wirklich geeignet, zu sehr muss man sich konzentrieren um im Halbdunkel nicht doch mal ein Schlagloch zu übersehen und alle Serpentinen vernünftig zu durchfahren. Im Sarntal angekommen geht es dann sofort wieder richtig los, die Straße steigt gleich wieder an Richtung Penser Joch. Es liegen nun etwa 35 Kilometer vor uns, durchgehend ansteigend. Mit dieser Aussicht für die nächsten Stunden eröffnet Rainer mir dass er ziemlich müde ist, und ein paar Stunden schlafen will. In Bungschen finden wir die perfekte Gelegenheit, Bushaltestellen auf beiden Seiten der Straße, schöne große Holzbänke. Rainer links, ich rechts, Schlafsack raus, rein in den Biwacksack und alle Jacken an. Meine große Angst während der Ruhepause zu frieren ist unbegründet, es ist wirklich warm und selbst mitten in der Nacht kann man ein paar Minuten außerhalb vom Schlafsack verbringen um Zähne zu putzen und noch etwas zu essen (in umgekehrter Reihenfolge). Fast drei Stunden schlafe ich ungewöhnlich gut, die Bank ist zwar hart aber man gewöhnt sich dran.

2. Tag

Gegen halb vier fährt mal wieder ein Auto vorbei, bremst ab, kommt zurück. Ich setze mich schnell auf, ein bisschen ängstlich bin ich immer wenn ich des Nachts draußen schlafe. Es sind die Carabinieri, die an der Bushaltestelle anhalten und aussteigen. Wir unterhalten uns, sie fragen ob es uns gut geht und was wir denn hier machen. Ich erkläre ihnen das wir auf einer Radtour unterwegs sind, von München gestartet, und jetzt ein paar Stunden hier ausruhen um gleich weiterzufahren. Sie sind völlig verblüfft, gucken ungläubig und sind dann jedoch beruhigt, dass es uns gut geht. Nur ob uns nicht kalt wäre fragen sie, was ich gottseidank auch um 4 Uhr noch verneinen kann. Sie lassen uns allein, und Rainer bewegt sich etwas. Ich frage ob er noch schlafen möchte, aber wir entscheiden uns so langsam die Sachen einzupacken und weiterzufahren. In der Dämmerung machen wir uns auf den langen Weg aufs Penser Joch. Anfangs ist die Steigung wirklich minimal, gut um warm zu werden und die strapazierten Muskeln etwas zu lockern. Ab Weißenbach steigt die Straße mit 6-8% an und hinter Pens wird es dann richtig hart. 4 Kilometer mit durchgehend 10 Prozent, gefolgt von 3 Kilometern mit 12 Prozent sind keine angenehme Aufgabe, vor allem nicht mit dem Gepäck. Allerdings entschädigt die aufgehende Sonne für die Schmerzen, dazu sieht man Kühe, Pferde und Ziegen die sich auf den Berghängen richtig wohl fühlen. Auf den letzten Kilometern ist die Landschaft um uns einfach wunderschön, und ich halte am Schild mit der Höhenangabe „2000m“. Mein erster 2000er, und ich bin ziemlich stolz drauf.
Oben angekommen folgt das obligatorische Kontrollfoto mit Passschild, ich warte auf Rainer und wir genießen einfach den Moment. Wir können nicht wirklich fassen dass wir von dort unten aus dem Tal herkommen sollen, alles ist etwas unwirklich.

Der Hunger treibt uns dann jedoch weiter in die Abfahrt Richtung Jaufenpass, es läuft schön flüssig und wir lassen es rollen. Unten angekommen steuern wir den ersten Bäcker den wir finden können an, ein Glücksgriff. Die Frau hinter der Theke ist super nett, wir wählen Frühstück, ich süß und Rainer herzhaft-vegetarisch. Das Croissant kommt frisch aus dem Ofen, trieft vor Butter und ist mit Schokolade gefüllt, Rainer bekommt ein frisches Ei („Ich habe ihnen ein 6-Minuten Ei gemacht, ist das okay? Ist es natürlich!“) und wir essen bis wir fast platzen. Währenddessen zieht eine Gruppe von 15-20 Mountainbikern an uns vorbei, und ich sage zu Rainer dass wir diese sicher im Anstieg wiedersehen werden. Nachdem wir die Flaschen aufgefüllt, uns bei der netten Bäckereifachverkäuferin verabschiedet und noch einmal die Handys gecheckt haben geht es direkt hinein in den Jaufenpass, den ich als einzigen auf dieser Tour völlig ohne Pause fahre. Rainer weiß Bescheid, und so nehme ich den Anstieg doch relativ schnell in Angriff, und nach einigen Kilometern sehe ich die ersten Mountainbiker wieder. Es wird gegrüßt, und die Motivation steigt. Nach 310 Kilometern fange ich an ein bisschen Jagd auf die Fahrer vor mir zu machen, ich bin froh dass es so gut läuft und Spaß macht. Das Wetter ist genial, die Steigungsprozente sind gut zu bewältigen und es geht einen Meter nach dem anderen hinauf. In der vorletzten Kehre überhole ich die letzte Mountainbikerin der Gruppe und freue mich nach knapp anderthalb Stunden (schneller als manche Ötztaler-Bezwinger aus meiner Freundesliste, sehe ich Zuhause) am Passschild anzuschlagen. Rad abstellen, Kontrollfoto, die ankommenden Radfahrer abklatschen und einen Johannisbeersaft trinken.

Rainer braucht eine knappe Stunde länger, und als ich ihn auf den letzten Kehren sehe fahre ich nochmal hinunter um ihn abzuholen. Es passt einfach alles an diesem Tag. Oben wird noch ein wenig Pause gemacht, Rainer bestellt sich zwei alkoholfreie Bier und einen Strudel, ich bin noch satt vom Frühstück. Nachdem wir genug genossen haben geht es in die schnelle Abfahrt hinunter nach St. Leonhard, wo mir erstmals so richtig schlecht ist. Die Maltodosierung ist etwas hoch, dazu eine Brausetablette pro Flasche für den Geschmack und die Temperatur von um die 32 Grad gibt mir richtig einen mit. Rainer ist besorgt als ich angerollt komme, scheinbar sehe ich mies aus, und wir entscheiden noch etwas zu essen bevor es richtig ins Timmelsjoch geht. Wir haben einen gehörigen Respekt, jeder kennt wohl die Geschichten über diese Straße. Ewig lang, teilweise auch steil, kein Schatten und gefühlt tausende Autofahrer die klar machen dass ihnen die Straße gehört und sie jederzeit unser Leben auslöschen könnten. Die ersten Kilometer zerren gehörig an den Nerven, aber irgendwann wird es besser und je höher wir uns schrauben desto angenehmer wird es. Allerdings sind die Trinkflaschen schnell leer und es gibt nur wenige Möglichkeiten für Nachschub, und somit fahre ich solange bis mir eine kleine Wassertränke auffällt. Dort angehalten, Flaschen gefüllt, Mütze und Buff sowie Armlinge nass gemacht, immer wieder kalte Umschläge auf den Sonnenbrand an den Armen, und warten auf Rainer. Dieses Mal will ich nicht den ganzen Pass fahren ohne ihn zu sehen, vielleicht baut es ihn auch etwas auf wenn ich warte und er sieht dass er nicht alleine ist. Teamwork ist für mich ebenfalls ein essentieller Bestandteil unserer Unternehmung, auch wenn wir unterschiedlich schnell am Berg sind. Als er die letzte Kurve bis zum Wasser entlang kommt sieht er schon richtig fertig aus, und ich bin einmal mehr erstaunt. Immerhin 39 Jahre älter als ich, und trotzdem ohne viel zu klagen solche Touren durchzuziehen. Ich winke ihm zu, und er ist froh über die kleine Pause und etwas Erholung. Bis hierhin hält das Timmelsjoch alles was es verspricht, heiß und hart und lang.

Nach der Pause wird es besser, irgendwann komme ich wieder in den Bergmodus und fahre einfach nach meinen Möglichkeiten immer weiter.
Das Alpenpanorama ist atemberaubend, und ich lenke mich damit ab dorthin zu gucken wo wir herkommen, und dorthin wo wir hinmüssen. Die letzten Serpentinen sieht man schon von weitem, „beeindruckend, und dort müssen wir hinauf“ denke ich mir im Kopf. Kurz vor dem Ende springt ein Murmeltier von links nach rechts über die Straße, schaut mich an und verschwindet in seinem Loch. Ich könnte schwören das es mir feierlich, vielleicht auch anerkennend, zugezwinkert hat. Irgendwann bin ich oben, der letzte Tunnel durchquert, ich setze mich auf eine kleine Steinmauer, lasse die Beine baumeln und denke an nichts. Ich fühle mich nicht unbedingt wie der König der Welt, habe eher ein Gefühl von völliger Freiheit und grenzenloser Freude. Hier oben fällt es außerordentlich leicht die Sorgen des Alltags von sich zu schieben und einfach mal zu genießen, den Kopf auf Durchzug zu schalten. Mir wird bewusst dass die Menschen im Angesicht einer solch gewaltigen Natur wirklich nur kleine Schachfiguren sein können. Nach 390 Kilometern oben auf dem Timmelsjoch zu stehen, das fühlt sich einfach richtig an. Und weil ich noch eine Menge Zeit hab bis Rainer oben ankommt putze ich noch schnell meine Zähne, irgendwas verrücktes wollte ich dort oben tun, was der Kopf halt so hergibt auf der Langstrecke.

Am Passschild machen wir dann wieder die Kontrollfotos, ziehen uns eine Jacke an und begeben uns auf die Abfahrt Richtung Sölden, mit dem Gegenanstieg zur Mautstation. Jetzt weiß ich was die Ötztalerfahrer immer damit meinen, es tut noch einmal weh, man quält sich mitten in der Abfahrt nochmal zwei Kilometer bergauf, obwohl der Kopf doch nur bergab will. Aber irgendwann haben wir auch diesen Abschnitt überwunden, und rollen bis Sölden hinunter. Dort ist Zeit fürs Abendessen, der Bäcker macht in 30 Minuten zu und wir bekommen alles was wir wollen zum halben Preis. Das Highlight ist Erdbeeryoghurt, verfeinert mit frischen Erdbeeren. Wir lassen es uns schmecken, genießen es dass 2/3 der Strecke geschafft sind. Dann wieder Flaschen auffüllen, Pulver hinzumischen, und weiter geht es. Im Tal bläst uns ein starker Wind entgegen, der die leicht abschüssige Straße eher wie eine Bergstraße erscheinen lässt. Wo normalerweise die Rennradfahrer in großer Zahl mit 35-40kmh Richtung Ötz ballern, sind wir mit 25 kmh unterwegs und kämpfen um jeden Kilometer, und bekommen gleichzeitig die einzigen zwei Wassertropfen auf unserer Tour ab, alles andere zieht südlich vorbei. In Längenfeld will Rainer kurz mal halten, ich wundere mich aber kann mir denken wieso. Er druckst etwas herum (lustig, wenn man bedenkt dass ich Rainer eh alle wichtigen Entscheidungen zuschiebe) und sagt dann dass er gerne eine Unterkunft für die Nacht suchen würde, dann vernünftig schlafen und früh gegen 4 Uhr weiterfahren. Da wir genug Zeit haben stimme ich natürlich zu, habe ich doch gemerkt dass seine Beine langsam schwer werden, und ein weiterer Pass ohne Pause heute keinen Sinn mehr macht. Außerdem gefällt mir die Idee den letzten Abschnitt entspannt und ausgeruht anzugehen, und so suchen wir schnell ein Zimmer für die Nacht. In Oetz finden wir eines, Rainer ruft kurz an, und einige Minuten später ist alles klar. Also fahren wir noch 15 Kilometer, und sind pünktlich kurz vor 8 an unserer Unterkunft. Die Vermieterin ist wahnsinnig nett, Räder in den Keller, Rechnung machen wir dann gleich, Frühstück um 4? Kein Problem, sie stellen uns alles in den Kühlschrank, legen 8 Bananen, unzählige kleine Muffins hin, selbst der Kaffee steht am nächsten Morgen schon da. Wir sind überglücklich, unsere Entscheidung war einfach richtig. Schnell heißt es schlafen, und nach 7 Stunden in einem weichen Bett und einem ausgezeichneten Frühstück machen wir uns auf den Weg zum Küthai.

3. Tag

Es dämmert schon langsam, und der Anstieg lässt sich wunderbar fahren. Nach 5 Kilometern ziehe ich meine Jacke aus, berghoch ist es warm genug, und weiter geht’s. Am schönsten ist es sich vollkommen ohne Verkehr in den Himmel zu schrauben und die Natur zu genießen. Die freilaufenden Kühe, der laute Bach in der Stille, dazwischen jede Menge wunderbare Serpentinen. Ein kurzes Durchatmen im Skiort Ochsengarten, bevor es in die bekannten Steilpassagen unterhalb des Stausees geht, aber ich habe in meinem Kopf verankert dass es der letzte große Pass, unser letzter großer Gegner, und ich fühle mich noch richtig frisch und das Fahren macht selbst in diesen Abschnitten noch viel Spaß. Oben angekommen setze ich mich in die Bushaltestelle die gleichzeitig als Kontrolle dient, ziehe alle Sachen an die ich so dabei habe und warte. Außerdem erspähe ich den Teambus von Jumbo-Visma, selbst die Profis trainieren hier oben, muss ja eine tolle Gegend sein. Rainer kommt 40 Minuten später an, ihm hat die Kälte am Morgen etwas den Zahn gezogen, trotzdem eine klasse Leistung wie er sich bis hier oben voran gekämpft hat. Eine lange Pause machen wir nicht, dazu ist es noch etwas zu frisch, aber die Zeit für Fotos und Scherze nehmen wir uns natürlich immer.

Mit drei Jacken und der Regenhose stürze ich mich in die Abfahrt, die langen Geraden laden ein zum schnellen Abfahren, man kann das Rad richtig laufen lassen und die Kilometer fliegen nur so vorbei. Viel zu schnell sind wir wieder unten im Tal, und haben zum ersten Mal seit Waidbruck wieder ein paar flache Kilometer vor uns. Ich würde gern bis Telfs durchfahren und dort etwas Essen, Rainer möchte jedoch schon in Kematen frühstücken, also machen wir es so. Zwei Leberkäsebrötchen machen mich dann glücklich, die Sonne wärmt uns richtig auf, man kann schon spüren dass auch die letzten Kilometer ein Genuss werden. Auf der Überführungsetappe bis Telfs lassen wir es ruhig angehen, im Flachen fährt es sich immer noch richtig gut, und 20 Kilometer später sind wir im letzten kategorisierten Anstieg unserer kleinen Alpentour: dem Buchener Sattel. Laut Beschreibung 7 Kilometer mit durchgängig 10 Prozent, beflügelt durch die gute Laune fühlt es sich viel weniger steil an, und als mich ein Tiroler Radler überholt hänge ich mich an ihn dran und schaffe es bis zur vorletzten Kurve nicht reißen zu lassen. Oben angekommen wartet er auf mich und wir unterhalten uns etwas, und er ist beeindruckt von unserer Tour. Er trainiert heute für den Ötztaler und fährt seine Intervalle, und weiß wie anstrengend die Pässe so sind. Nach 5 Minuten verabschiedet er sich, und ich sehe später bei Strava wer er ist. Seitdem hat er einen Abonnenten mehr, und ich auch. Manchmal sind soziale Netzwerke ja auch richtig nützlich, schönes Gefühl. Rainer ist schneller oben als sonst, die Wärme tut gut und er ist wieder fit, typisch Randonneur, irgendwann geht’s immer wieder bergauf (über diesen Wortwitz muss ich tatsächlich auch Zuhause noch lachen). Und ab jetzt rollen wir nur noch bergab scherzen wir uns zu, immerhin stehen mehr als zehntausend Höhenmeter auf dem Garmin, und wir haben nur noch 90 Kilometer zu fahren.

Und wirklich, es läuft einfach alles. Die nächsten Kilometer sind leicht abschüssig, wir rollen durch grüne Wiesen und kleinere malerische Orte, einmal müssen wir anhalten um an einer Kirche Wasser nachzutanken, und hinter Mittenwild essen wir dann endlich mal ein Eis. Ein bisschen schämen müssen wir uns, denn in Italien haben wir es nicht geschafft einen vernünftigen Eisbecher zu organisieren. Müssen dann wohl nochmal los, tut mir leid Rainer. Mein Ruf steht ja da auch irgendwie auf dem Spiel.

Gestärkt durch diese kleine Pause verfliegen die Kilometer bis zur letzten Kontrollstelle sehr schnell, es geht entlang des Walchensees Richtung Kochel am See und weiter nach Wolfratshausen. Ein bisschen ungewohnt sind die flachen Kilometer jetzt und kurzzeitig stellt sich ein bisschen mentale Müdigkeit bei uns beiden ein. Rainer ist doch auch etwas kaputt (beruhigt mich ungemein) und ich bin etwas traurig dass es sobald vorbei sein wird. Mein Freilauf macht noch ein paar Zicken und will sich nicht mehr drehen, ansonsten geht aber alles glatt. Über eine schöne Fahrradstraße mitten durch einen kühlen Wald geht es Richtung Deisenhofen, ein letzter kleiner Anstieg, und schon sind wir wieder am Bahnhof und machen unser Abschlussfoto mit der Bahnhofsuhr. Und liegen uns in den Armen, es ist ein tolles Gefühl, wahrscheinlich unbeschreiblich für die meisten Menschen. 615 Kilometer, 10700 Höhenmeter, 55 Stunden unterwegs, davon 31 gefahren. Wir haben viele Pausen gemacht, viel gegessen, haben uns entspannt und einfach jeden Kilometer genossen.

Epilog:

Zurück auf unserem Hotelzimmer, frisch geduscht, neue Sachen angezogen (drei Tage dieselbe Radhose… sowas sollte man in Berichten vielleicht nicht erwähnen) versuchen wir es so richtig zu verstehen. Die Touren werden auf Strava hochgeladen, und wir freuen uns über die vielen Kommentare, genannt auch digitale Streicheleinheiten. Nachdem wir uns ein wenig ausgeruht haben schaffen wir es noch in ein griechisches Restaurant, essen alles was uns so vor die Nase kommt und wanken dann zurück ins Hotel um fast auf der Stelle einzuschlafen. Am nächsten Morgen geht es nach dem Frühstück wieder auf demselben Weg zurück nach Berlin, allerdings ist es etwas surreal nicht mehr auf dem Rad sitzen zu müssen und zu dürfen. Dafür stellen wir im Stau fest dass wir einen ähnlichen Musikgeschmack besitzen, und schauen Youtube-Videos von George Thorogood and the Destroyers und Neil Young, und hören uns Podcasts an. Die Zeit geht ziemlich gut rum, ich schlafe ab und zu mal ein, und in der restlichen Zeit erklären wir uns gegenseitig wie grandios wir unser Abenteuer fanden und wie glücklich wir sind es geschafft zu haben. Zu schnell ist die Fahrt vorbei, ein letzter Abschied am Bahnhof Ludwigsfelde und dann sind 5 Tage rum. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, die vergangenen Tage scheinen einer anderen Zeitrechnung zu entstammen. Es wird wohl eine Weile dauern bis ich verstanden habe was diese Woche alles passiert ist, was wir alles gesehen und erlebt haben.

Fazit:

Nachdem ich vorher skeptisch war ob ich die Ötztalrundfahrt wohl finishen könnte hat sich herausgestellt dass mit einer entspannten Fahrweise und einer gewissen Bergfahr-Affinität sowie dem richtigen Wetter keine Probleme mit dem Zeitlimit zu erwarten sind. Und trotz des klaren Fokus dieser Saison auf einen Start in Paris im August war das doch eher spontane Einschieben unserer Tour genau die richtige Entscheidung, ebenso wie die Tatsache innerhalb der Woche zu fahren, um dem Verkehr in den Alpen grundsätzlich schon einmal aus dem Weg zu gehen. Nachts nicht komplett durchzufahren sondern jeweils ein paar Stunden zu schlafen war ebenfalls gut, um tagsüber konzentriert die Pässe zu befahren und auch den Blick für die vielfältigen Panoramen zu behalten. Ich kann es vielen Menschen die vielleicht drüber nachdenken nur empfehlen, versucht es und genießt die Landschaft.

Ich kann mich am Ende nur bei Rainer und auch den Menschen bedanken, die mir immer wieder solche Touren ermöglichen und mich unterstützen, auch wenn es mal nicht so läuft. Es sind Erinnerungen die man sein ganzes Leben lang behalten kann, und an welche man sicher immer wieder zurückdenkt. Außerdem kann ich sagen wie froh ich wieder einmal bin dass ich so viele verschiedene, aber alle auf ihre Weise einzigartige Menschen beim Fahrradfahren kennen gelernt habe. Danke euch Allen, wir sehen uns.

Euer Finisher der Ötztalrundfahrt Nr.19 in 2019,
Ole

Die 400er Wochen im Mai, Teil III

ARA Berlin 400er, Kapelmuur:

„Von dünnen Reifen und Leichtbau wird abgeraten“. So oder so ähnlich stand es in der E-Mail, die uns Randonneuren den Track des Berliner 400ers erklären und gleichzeitig schmackhaft machen sollte. Zum ersten Mal sollte dieser auch einige Kilometer auf komplett unbefestigten Wegen durch grüne Wälder führen, und nicht nur die in Berlin typischen Kopfsteinpflasterabschnitte, von landwirtschaftlichen Plattenwegen ganz zu schweigen, enthalten. Eine richtige Wahl hatte ich mir dennoch nicht gelassen, mein Pinarello ist nun mal das bevorzugte Brevetrad und durfte deshalb fest mit einem Einsatz rechnen. Vorne 23mm und hinten 25mm Mäntel, und wenig nachdenken in der Vorbereitung.

Samstag früh geht es wie immer mit dem Zug nach Berlin, somit ist der Wecker auf 5 Uhr gestellt, die Sonne scheint da schon und macht das Aufstehen leichter. Das Wetter soll gut werden, erst sonnig, dann viele Wolken, aber zum ersten Mal richtig trocken. Kalt ist es jedoch trotzdem, nur wenige Kollegen fahren in kurz kurz, und auch tagsüber wird es nicht wärmer als 17 Grad.

Der Start ist diesmal nicht am Amstelhouse sondern direkt am Spandauer Schiffahrtskanal. Einschreiben in die zweite Startgruppe auf einem Mauersims, und dann ein bisschen Gequatsche mit bekannten Gesichtern. Rainer fährt heute sein 50. Brevet (Spoiler: alle 50 sind gefinished!), und wird im Ziel einen ausgeben. Dietmar gibt mir Tipps zur Umfahrung eines unangenehmen Abschnitts, always listen to your local guide! Michael L. aus dem Norden begrüßt mich herzlich, Ralf mit seinem tollen Randonneur ist auch wieder da, und auch Rene ist am Start. Letztes Jahr sind wir einige Kilometer beim 400er zusammen gefahren, bis er in den Zug steigen musste. Heute werden wir uns unterwegs wieder treffen und bis zum Schluss eine kleine Gruppe bilden. Statt mich in die erste Startgruppe einzutragen, wie ich es überlegt hatte, habe ich mich entschieden mit meinem Vater zusammen gemütlich in der zweiten Gruppe zu fahren, immerhin war er 6 Wochen lang nicht auf dem Rad.

Der Start ist höchst unspektakulär, und Rainer führt uns auf schönen Wegen aus der Stadt, wenige Ampeln sind diesmal auf dem Track zu finden, es rollt sich so dahin. Wir nehmen die bekannte Route Richtung Schönwalde, 5 km Kopfsteinpflaster zum eingewöhnen. Zugegeben, es ist jenes der kleinen und sehr gut zu fahrenden Sorte, aber die Blase drückt trotzdem bald und wir halten mal kurz an. Beim Versuch die Gruppe wieder einzuholen wird mir zum ersten Mal warm, die Beine fühlen sich ganz gut an heute. Bis Kienberg bleiben wir als Gruppe zusammen, dann folgen die ersten richtigen Prüfungen. Plattenwege der üblen Sorte, teilweise mit mehreren Zentimeter hohen Kanten. Ich habe mich vorher an die vordere Position geschoben, damit ich schnell drüber fahren kann und den Überblick behalte, das funktioniert einwandfrei. Ab und zu muss ich die Daumen drücken dass meine Felge diesen Abschnitt übersteht, aber alles bleibt in Ordnung. Am Ende des Sektors halte ich an, und warte auf die anderen. Papa erzählt mir das Rainer einen Platten hatte, und wir fahren in kleinerer Gruppe ohne ihn weiter. Dafür bemerke ich das Eva auch in unserer Gruppe unterwegs ist, und wir beide fahren eine ganze Weile an der Spitze und machen das Tempo im Gegenwind. Ich lasse mir von der schönen Landschaft an der Mosel erzählen, und berichte selbst von der Heimat Light, die Michael und Eva auch geplant hatten, und die ich mit ihnen fahren wollte. Leider stelle ich fest dass es dazu nicht kommen wird, da ich mal wieder Termine durcheinander gebracht habe, und an Himmelfahrt andere Dinge vorgehen. Zwischen dem ganzen Erzählen geht die Zeit ganz gut rum, wir fahren durch meine Heimatstrecken, vorbei an den Feldern von Friesack, durch Stölln (Dorf der Luftfahrtpioniere) bis zur ersten Kontrolle in Rhinow. Dort entscheiden wir uns für einen kurzen Stopp an der Tankstelle, holen den ersten Stempel und essen die mitgebrachten Brötchen und Bananen.

Ab jetzt führt der Track nach Norden Richtung Mecklenburg, und der Wind kommt nicht mehr so stark von vorn. Unsere Gruppe bleibt vorerst zusammen, es passt noch ganz gut. Die sich abwechselnden Abschnitte von Plattenwegen, Kopfsteinpflaster und wenig befahrenen Asphaltstraßen lassen sich sehr gut bewältigen, auch wenn manche Ecken schon an den Gelenken zerren. Dafür entschädigen uns frisch asphaltierte Fahrradstraßen durch den Wald kurz vor Wittstock, der zweiten Kontrolle. Dort essen wir zum ersten Mal so richtig, ich bestelle zwei Würstchen im Schlafrock, sehr zu empfehlen. Die Kassierer sind super nett, haben extra eine Kasse nur für uns aufgemacht und winken uns durch, so ist es optimal.

Im Anschluss fahren wir zu zweit weiter, Eva befindet sich einige Kilometer vor uns und leuchtet uns mit der rosanen Windweste den Weg. So langsam wird der Rückenwind auch spürbarer, und es fängt an zu rollen. Rene hat sich eine schöne Mahlzeit (kein schnödes Tankstellenessen) in Wittstock gegönnt, und fährt auf uns auf, so dass wir zu dritt unterwegs sind. Die Natur wird immer schöner, ich liebe die Mecklenburger Seenplatte seit dem ich angefangen habe mit dem Rad zu fahren, und heute können wir es richtig genießen. Eva wird wieder eingeholt, und führt uns direkt auf den ersten unbefestigten Abschnitt des Tages, der sich aber noch gut fahren lässt (na gut, ich mag die asphaltierten Stellen lieber, aber das ist kein Geheimnis) und auf einer schönen Straße mitten durchs Naturschutzgebiet mündet. Wir kommen am Cafe Piccolini vorbei, 10 km vor der nächsten Kontrolle. Der Hunger ist größer als die mentale Stärke und somit entscheiden sich Rene und wir für einen Stopp, während Eva weiter fährt. Es gibt Fischbrötchen, Kuchen und Eis, und wir lassen unzählige kleine Grüppchen von Randonneuren vorbeiziehen. 5 km nach dem wir wieder unterwegs sind, bricht auf einem guten Plattenweg meine Vorderlampe einfach ab, und ich sage zu meinem Vater dass ich heute wohl nicht ankommen werde, im Dunkeln ohne Licht werde ich nicht ausprobieren. Resignation vom feinsten, und dass schon beim ersten Problem, in der Hinsicht nicht mein bester Tag. Wir entscheiden erstmal weiterzufahren und später zu überlegen wie es weitergeht, sind ja noch einige Stunden im Hellen zu absolvieren. Den Stempel an der heutigen „Muur“ in Klein Vielen sammeln wir schnell ein, essen ein paar der dargebotenen Süßigkeiten und fahren weiter. Rainer ist auch dort und ich leihe ihm noch schnell einen Schlauch, er hat seine beiden beim erwähnten Plattenweg verbraucht, und ich habe noch drei Stück dabei. Bis Prenzlau sind es 75 Kilometer, die sich durch viele kleine Hügel erstmal etwas ziehen. Zusätzlich folgen der schlechteste Waldabschnitt und Baustellenkilometer, Papa flucht öfter mal, da fehlt ein wenig mentale Ruhe, aber so ist es schon immer gewesen. Und ehrlicherweise kommen wir ohne größere Probleme an der Tankstelle in Prenzlau an, und die Laune ist bei den meisten immer noch gut. Dort gibt es ein Twixx und Gummibärchen für die Rahmentasche, die ich später im Dunkeln Stück für Stück esse, um die Zeit ein bisschen zu verkürzen. Bis zur vorletzten Kontrolle sind es nur 35 Kilometer, dort wollen wir noch einmal richtig essen.

Zwei Randonneure aus Hamburg schließen sich uns bei der Abfahrt an, einen habe ich dort schon beim 400er getroffen. Zu fünft geht es die vielen kleinen Hügel hoch und wieder runter, der Magen hängt ein bisschen durch, aber mit letzter Kraft schaffen wir es doch noch bis zur Kneipe und gönnen uns Buletten mit Kartoffelsalat. Ralf kommt mit der Gruppe nach uns und leiht mir vorm losfahren seine Ersatzlampe, meine Rettung für diesen Tag, falls du das liest, vielen Dank!!

Wir bleiben jetzt bis ins Ziel in unserer Konstellation zusammen, und quälen uns über die schlimmsten Abschnitte der heutigen Runde. In der Dämmerung ist es schon schwierig zu fahren, ab und zu liegt in den Kurven loser Sand, hier ist nochmal Konzentration gefragt. Richtung Werbellinsee werden die Straßen schöner, und im Dunkeln rollt es sich noch ganz gut Richtung Berlin. Die Wälder ziehen sich zwar noch eine ganze Weile hin, wir sehen mehrere Waschbären und auch ein paar Rehe, sowie einen Hasen der sich mit uns ein kleines Wettrennen liefert. Rene zieht uns nach Berlin hinein, wir tauschen ein paar Gummibärchen aus (er hat „ein Rotes“, daran kann ich mich gut erinnern), er kennt den Weg auswendig und wir fahren eine ganze Weile schweigend nebeneinander her, schönes Gefühl. Auch in Berlin läuft es irgendwie flüssiger als sonst, vielleicht sind die Autofahrer alle schon im Bett, wer weiß.

Kurz vor 1 Uhr nachts sind wir im Ziel, Kilometer 410, nicht die schnellste Zeit, aber was solls. Da unser letzter Zug verpasst ist warten wir auf die nachfolgende Gruppe mit Rainer, Ralf, Ingo und Michael (und ein paar weiteren) und trinken alle zusammen noch ein Bier. Ich schenke zusätzlich noch den Rest Transcimbricaschnaps aus, der mich auf allen 400ern begleitet hat, und den ich leider immer nur in kleinen Dosen getrunken habe. Es ist eine so angenehme Runde, und die Zeit bis zum ersten Zug gegen 3 Uhr vergeht wie im Flug. Wirklich schön mal wieder alle Gesichter gesehen zu haben, die mich teils seit dem Anfang meiner Brevetkarriere begleiten, das bedeutet mir eine ganze Menge. Auf dem Weg zum Bahnhof fühlen sich die Beine schon wieder ganz gut an, und trotzdem bin ich froh als wir um kurz vor vier Zuhause aufschlagen. Es wird gerade hell, ich schaufle noch schnell zwei Brötchen in mich hinein und gehe schlafen, schließlich will später am Tag noch in Sachsen gewählt werden und dort muss ich auch erstmal hinkommen.
An solch schönen Tagen kommt mir die Politik wie ein fernes Rauschen vor, die Probleme unserer Welt rücken ein bisschen in den Hintergrund, man kann sich ein bisschen in eine angenehmere Welt träumen. Die Realität holt uns alle schnell genug wieder ein, und deswegen hoffe ich wir sehen uns beim 600er gesund wieder, ich freue mich schon drauf.

Abschlussfazit:
So als Finale könnte man alle 400er mal vergleichen, aber so richtig will mir das nicht gelingen. Sicherlich war der 400er in Hamburg am leichtesten, streckentechnisch gesehen. Die höhenmeterreiche Strecke in Sachsen hat mir super gefallen, die Strecke in Berlin eher zweigeteilt zwischen absolut schöner Landschaft, und wirklich gefährlichen Abschnitten, vor allem in der Nacht für langsamere Fahrer. Daran sollte man bei der Planung durchaus auch mal denken, wir alle machen es zum Spaß, und niemand sollte das Risiko eingehen müssen sich zu verletzen. Das Wetter war in Berlin am besten, in Sachsen einfach nur nass und in Hamburg eher kalt und windig. In Hamburg und Berlin bin ich keinen Kilometer alleine gefahren, in Sachsen knapp 250. Was mir besser gefällt? Keine Ahnung, das ist wie Äpfel und Birnen vergleichen. Wichtiger ist die Tatsache dass ich wirklich immer viel Spaß hatte, mental vor allem in Sachsen neue Grenzen erfahren konnte und wieder einmal viele Menschen getroffen habe die ich gut leiden kann. Jetzt folgt eine kleine Pause bis die 600er Wochen beginnen, die Vorfreude wächst schon wieder. Dann hoffentlich mit Sonne, 30 Grad und Rückenwind.
Danke an alle Mitleser, falls ihr Fragen habt oder Anmerkungen, gerne schreiben. Liebe Grüße, Ole

Die 400er Wochen im Mai, Teil II

ARA Sachsen 400er Brevet:

Als Olaf die Strecken rumschickt bin ich richtig glücklich: Eine tolle Tour durch Thüringen, super schöne Landschaften und mit 4000hm auch einem recht anspruchsvollen Profil. Allerdings wird der Wetterbericht ab Mittwoch immer schlechter, so dass am Freitag beim organisieren meiner Radklamotten klar wird: 100 Prozent Regenwahrscheinlichkeit ab dem Start um 10.30, anhaltend bis weit in die Nacht hinein, also wahrscheinlich keine einzige trockene Minute. Ich packe alles ein was den Begriff „Regen“ im Namen trägt: Regenjacke, Regenhose, Regensocken, Regentrikot (nicht zu verwechseln mit dem Regenbogentrikot), Regenhandschuhe… Und so weiter. Ich kann es schonmal vorwegnehmen: Nicht ein einziges Teil davon war am Ende noch trocken, nur das Sitzpolster hat es wie durch ein Wunder geschafft. Die Anreise am Freitag läuft problemlos, und Olaf und ich bauen alles auf was so zur Ausstattung gehört: Bierbänke mit Tischdecken, Getränke, Soljanka, Geschirr, Kaffeemaschine,… als wir fertig sind kommen zwei der Bernauer Leisetreter an, es ist schön noch Gesellschaft zu bekommen für die Nacht. Und so sitzen wir im Anschluss noch eine Weile herum, erzählen und machen uns keine Sorgen um morgen.
Durch den späten Start schlafe ich bist fast 9 Uhr aus, mal ein ganz anderes Gefühl. Allerdings wird so auch die komplette Nacht gefahren werden müssen, Olaf sieht das als Training für alle die nach Paris wollen und dann sowieso nachts fahren werden. Pünktlich um 10 fängt es an zu regnen, allerdings ist ein Großteil der Randonneure sichtlich entspannt. Dann halt Regenhose an, nass wird man eh irgendwann ist der allgemeine Tenor. Vlt sind wir etwas verrückt bei solchen Aussichten 400 Kilometer fahren zu wollen, aber immerhin sind wir uns alle einig. Ich habe mich in die erste Startgruppe eingetragen, da ich die 400er Quali letzte Woche geschafft habe will ich heute ohne Druck fahren und mal schauen was leistungstechnisch so geht. Und so hänge ich mich direkt an Nico, Markus und den Kumpel von Markus und genieße es mit deutlich mehr als 30kmh Richtung Leipzig zu fliegen. Ich habe kurzfristig hinten ein Schutzblech montiert, leider bin ich damit in unserer acht Mann starken Gruppe der einzige. Nur mein Hintermann bedankt sich zwischendurch mal kurz, dass er nicht allen Dreck von der Straße im Gesicht hat. Nach 20 Kilometern steht das Wasser in den Schuhen, nach 40 sind die wasserdichten Handschuhe komplett durch. Bis Weißenfels lasse ich sie an, danach wird erstmal ohne Handschuhe weitergefahren, immerhin ist es relativ warm mit um die 11 Grad. Der Sprintzug geht weiter bis Bad Sulza, wo wir am Netto einen Stempel holen. Markus und sein Begleiter sowie Fiona sind allerdings schnell wieder weitergefahren, so dass Nico und ich eine regelrechte Hetzjagd veranstalten, und dabei unabsichtlich die letzten beiden Mitstreiter abschütteln. Der Wattmesser zeigt irrsinnige Zahlen für meine Verhältnisse an, ich will doch noch 270 Kilometer fahren, und nicht in 10 Kilometern in den Zug steigen. Bis Buttstädt haben wir die anderen wieder erwischt. Fiona fährt direkt weiter, die Gefahr auszukühlen ist immens. Ich folge ihr auf dem Fuße, die anderen machen ein paar Minuten länger Pause. Erst schließe ich zu Fiona auf, um dann zu merken dass ich jetzt gerne mal alleine die Berge hochfahren würde, so dass ich mich zurückfallen lasse. Am Horizont sehe ich für die nächsten 70 Kilometer immer die rote Rapha-Regenjacke schimmern, beruhigend und gleichzeitig weit genug weg um sich alleine fühlen zu können. Nico kommt von hinten an, sein Tempo kann niemand von uns beiden mitgehen, er wird dann knapp anderthalb Stunden vor allen anderen im Ziel sein. 10 Kilometer vor der Kontrolle in Pößneck hole ich Fiona wieder ein und wir fahren gemeinsam den wunderschönen Anstieg nach Hütten hinauf, an dem es eine Kontrollfrage zu beantworten gilt. In Pößneck an der Tankstelle wieder schnell den Stempel, Licht anbauen, kurz eine Cola und ein Gel, dazu zwei Snickers. Nico fährt gerade los als ich auch los will, aber ich warte noch zwei Minuten. Ich will nicht das Risiko eingehen mich anzudocken und zu verausgaben. Jetzt beginnen die Hügel so richtig, es gibt Steigungen von 16%, und der Regen wird immer stärker. Ich fahre über Hochebenen auf denen weder Bäume noch Büsche stehen, einzig der blühende Raps erhellt die Landschaft ein wenig. Leider kommt der Wind jetzt immer mehr von vorne, und die weitgeschnittenen Regensachen bremsen merklich. An irgendeiner Steigung stelle ich fest dass ich meine Handschuhe noch nicht angezogen habe, und jetzt kaum noch die Finger bewegen kann. Bremsen und Schalten? No way my dear. Also kurz in der nächsten Bushaltestelle angehalten, aber ich komme verflixt nochmal nicht mehr in die nassen Handschuhe, ich kann sie nicht einmal greifen um zu ziehen. Irgendwie schaffe ich es mit den Zähnen den linken anzuziehen, rechts wird es nur der Stoffhandschuh mit Überzieher, was solls, irgendwie muss es weitergehen. Bis Glauchau bei Kilometer 310 sind es noch gute 20 Kilometer, und ich überlege fieberhaft wie es ab dort weitergehen soll. Es läuft eigentlich ganz gut, dann in Werdau ein Schlagloch und krach, meine Lampenhalterung liegt samt Lampe auf der Straße, Plastik ist gebrochen. Ich versuche fieberhaft im strömenden Regen den Halter irgendwie an meinen Lenker zu montieren, es dauert gefühlte Jahre bis er wieder fest ist, und ab diesem Zeitpunkt rutscht die Lampe bei Löchern und Unebenheiten nach unten und muss wieder ausgerichtet werden, was solls ich kann da jetzt auch nichts machen. Mental bin ich gerade am Boden, Jugendherberge oder Hotel schießt mir in den Kopf, duschen, schlafen und morgen früh im Sonnenschein weiter, genug Zeit hast du doch. So kommt es dass ich in der Total Tankstelle Glauchau stehe, der Frau erkläre was ich gerade mache, und diese in 6 verschiedenen Hotels für mich anruft. Nirgends melden sich Menschen, im letzten geht zwar jemand ran, legt dann aber auf und drückt uns beim zweiten Versuch weg. Sie tröstet mich etwas, ich trinke einen heißen Tee mit RedBull, und lasse sie ein Gel für mich öffnen. Alleine bekomme ich diesen Schnipsel nicht mehr ab. Der nächste Zug fährt erst um 3, also mehr als 4 Stunden warten… Also ist es eigentlich nicht meine mentale Stärke, sondern die pure Verzweiflung die mich nach rund 15 Minuten (die längste Pause des Tages) wieder aufs Rad treibt und weiterfahren lässt. Noch kurz eine Sprachnachricht verschickt, damit niemand denkt ich liege erfrierend irgendwo im Gras, aber sonderlich motiviert klinge ich sicher nicht mehr. Ich hoffe eigentlich dass Markus von hinten angefahren kommt und mich etwas aufmuntert, allerdings hat sein Kumpel einen Platten und gibt dann auf, und ich sehe Markus erst deutlich später im Ziel wieder, schade. Aber so kann ich die vielen kleinen Hügel in meinem eigenen Tempo fahren, niemand nervt von vorne oder hinten, kaum Autos auf der Straße, und ganz langsam finde ich den Spaß wieder. Wobei Spaß vlt etwas viel gesagt ist, aber eine kleine Vorstufe davon kann ich spüren. Mir ist ganz angenehm warm, nur die Füße sind kalt und seit 15 Stunden nass, aber komischerweise werden sie erst im Ziel anfangen zu brennen und weh zu tun. So geht es immer weiter Richtung Oschatz, vorbei an einer kleinen Dorfdisko vor der ein Haufen Jugendliche steht und mich tatsächlich anfeuert (möglicherweise rufen sie auch andere Dinge, ich höre nur „Allez Allez“). Im nächsten Dorf fahren drei von ihnen mit dem Rad nach Hause und wünschen mir noch eine gute Fahrt beim Überholen, ja Dankeschön und euch auch! An der letzten Kontrolle reiche ich der Frau einfach den Beutel mit der Karte, auf bekomme ich den eh nicht mehr, sie ist schon geübt im Umgang mit uns komischen Vögeln und erledigt alles zu vollster Zufriedenheit. Auch sie darf mir noch ein Gel öffnen, letzte Energiereserven bis Wurzen, noch 30 Kilometer über diese ekligen Wellen. Meine Colaflasche im Trikot wird noch unterwegs leer gemacht, ansonsten passiert kaum noch etwas. Mit jedem Kilometer steigt die Motivation, kommt Energie zurück und ich trete noch einmal richtig rein. Möglicherweise sind es die warmen Gedanken die ich mir mache, aber es läuft wieder. Kurz nach halb fünf komme ich an der Turnhalle an, gottseidank ist die schon aufgeschlossen. Nico erzählt mir später dass er den Safe erst nach einigen Versuchen aufbekommen hat, weil er seine Hände ebenso wenig unter Kontrolle hatte wie ich auch. Nur zwei Fahrer vor mir, heute bin ich stolz auf meine Leistung, natürlich ist es kein Rennen, aber mein Plan hat weitestgehend funktioniert, das war vorher nicht abzusehen. Ich entledige mich meiner nassen Sachen, als ich die Socken ausziehe plätschert es nur so, wasserdicht sind sie, es läuft scheinbar kein Wasser heraus. Die Grundbedürfnisse übernehmen, Strava-Upload und richtig heiß duschen. Mein Bett ist noch von letzter Nacht aufgebaut, so dass ich nach einem Stück Kuchen und zwei Brötchen erstmal schlafen gehe, nicht ohne zuvor Fiona und Nico zu verabschieden, es war ein epischer Tag mit euch.
Als ich gegen 8 wieder erwache trudeln langsam die nächsten Finisher ein, Olaf mit einem Rock aus Müllsack, toll sieht er aus, da kann man noch etwas lernen. Regenjacke hatte er keine dabei, nass wird man sowieso… alle sind sich einig, normal war das Ganze heute nicht. Um 11.30 will ich gerade wieder nach Freiberg aufbrechen als Matthias mit Begleitung ankommt. Sie sind die letzten Stunden in strahlendem Sonnenschein gefahren, und bald wieder trocken. Ich mache noch schnell ein Foto und verabschiede mich, man sieht sich beim 600er.
Was übrig bleibt von dieser Wasserschlacht? Ich weiß nicht ob ich beim nächsten Mal und so einer Vorhersage wieder starten würde, es war mit das härteste Brevet bisher für mich. Andererseits hatte ich auch noch nie so kurze Standzeiten und war so zeitig wieder da, und dieses Gefühl ist durchaus erbauend. Zudem habe ich mich unterwegs, wenns mal gerade nicht ganz so schlimm war, auch richtiggehend lebendig gefühlt, Regen und Wind im Gesicht und die Natur spüren, toll. Schön war der Start in der schnellen Gruppe, besser dann die fast 250 Kilometer Solofahrt durch trübes Grau und Dunkelheit. Diesmal brauche ich etwas mehr Erholung denke ich, die Beine sind okay, der Kopf braucht Zeit um runterzufahren. Wir sehen uns in zwei Wochen in Berlin, dieser Bericht wird dann hoffentlich mit einem dritten Kapitel vervollständigt.

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