Superrandonnée Ötztalrundfahrt – Meine Reise in eine andere Welt

Vorbetrachtung:

Jedes Jahr im Winter macht man als Rennradfahrer Pläne für die neue Saison, surft im Internet, liest Berichte um Berichte und träumt von der warmen Sommerzeit draußen auf dem Rad, in Gegenden welche durch ihren mystischen Ruf eine besondere Anziehung ausüben. Nachdem mein Fokus sowieso stark auf die Brevets ausgelegt ist kam ich an der Institution „Superrandonneé“ nicht vorbei, und hatte mir schon öfter gesagt: das machst du irgendwann! Eine Superrandonnee ist im Gegensatz zu den normalen Brevets sehr einfach geregelt: es gibt keinen festen Termin, man meldet sich an, sucht sich ein Datum aus, bekommt die hübsche gelbe Kontrollkarte zugeschickt und das wars. Weiterhin fährt man dann zwischen 600 und 618 Kilometern auf dem Rad in 60 Stunden. Die Besonderheit hieran sind die Höhenmeter, mindestens 10000, in Worten zehntausend, müssen bewältigt werden, meistens noch ein paar mehr. In Deutschland gibt es zwei dieser besonderen Touren, in Freiburg die „Belchen Satt“-Runde, und seit letztem Jahr südlich von München die „Ötztalrundfahrt“.

Allerdings hatte ich im Winter nicht gedacht, dass ich die Zeit und auch die Form haben würde, um eine der beiden Touren anzugehen. Andererseits kommt es meistens anders als man denkt, und so kam es im Frühjahr auf einem der ersten Brevets zu der folgenschweren Unterhaltung mit Rainer aus Berlin, der dieses Jahr die zweite Superrandonnee in München angehen wollte, aber noch so ein bisschen einen Mitfahrer gesucht hat. Etwas gedankenlos sagte ich sofort, dass ich Lust hätte und wenn wir einen Termin finden würden sehr gerne mit ihm starten würde. Aus diesem kleinen Gespräch wuchs die fixe Planung, während der wir schnell einen Termin fanden und uns einige waren mit Anfahrt, Übernachtung und allem anderen. Alles war absolut unkompliziert, einfach genial um entspannt auf die Reise zu gehen.

Prolog:

Und so kam es, dass ich am Montag, den 15.07.2019 um 9 Uhr in Nauen in einen Zug gestiegen und einmal durch Berlin gefahren bin, um am Bahnhof Königs Wusterhausen zu Rainer ins Auto zu steigen und auf die lange Anreise zu gehen. Zu dem Zeitpunkt war ich noch relativ entspannt, hatte auch erstmal einen riesigen Rucksack mit allen Fahrradsachen dabei die ich so Zuhause noch gefunden hatte, ohne drüber nachzudenken was ich denn wirklich mit auf- und ans Rad nehmen würde. Mal wieder wurde schnell klar, dass lange Autofahrten einfach keinen richtigen Spaß machen, aber durch die vielen kleinen Geschichten die Rainer so erzählen kann (Wie gut man einen Menschen doch in nur 4 Tagen kennenlernen kann, das erlebt man auch nur auf solchen Abenteuern) ging die Zeit schnell rum, und gegen 18 Uhr kamen wir im Hotel in Deisenhofen an, nur einen Kilometer vom Start entfernt. Ausgepackt, die Räder eine steile Wendeltreppe hochgeschleppt, und dann noch schnell im Supermarkt ein paar Süßigkeiten und Knabberzeug gekauft und auf dem Rückweg noch eine Pizza mitgenommen. In der Abendsonne saßen wir auf dem Balkon, Pizza auf dem Schoß und Bier auf dem Klapptisch, und genossen einfach dieses kleine Kribbeln, was sich so langsam einstellte. Meine Sachen für den nächsten Tag wurden schon auf einen Bügel gehängt, um am nächsten Morgen nicht mehr nachdenken zu müssen. Die Überlegung für mein Gepäck viel mir hingegen deutlich schwerer, letztendlich entschied ich mich für Schlafsack und Biwacksack, meine Gore-Winterjacke, Daunenjacke, Regensachen, drei paar Socken (Dick, Dünn, Regen), und dazu Winterhandschuhe, lange dünne Handschuhe und Kurzfingerhandschuhen. Beinlinge, Knielinge, Armlinge, kurzes Trikot, kurze Bibshorts und Windweste in Signalfarben komplettierten meine Garderobe. Für die Energie hatte ich Maltodextrin dabei, abgewogen für immer zwei Flaschen, unzählige Gels von denen ich nur eins gegessen habe, ein paar Schokoriegel, Gummibärchen und kleine Salamis für den herzhaften Geschmack. Allerdings hatten wir uns sowieso vorgenommen ruhig zu fahren, und beim Essen keine Kompromisse einzugehen 😉 . Eine große Powerbank mit 20000 mAh, drei Schläuche und eine fast komplette Werkzeugkiste kamen noch mit ans Rad, und somit hoffte ich allen Schwierigkeiten gewachsen zu sein. Insgesamt wog mein Rad am Start ungefähr 18 Kilo, am Ziel dann anderthalb weniger durch die verbrauchte Energie in Form des Getränkepulvers.

1. Tag:

Komischerweise ist die erste Nacht im Hotel fast die Nacht in der ich am wenigsten schlafe, weil ich große Angst um die bayrischen Wälder habe, durch die sich Rainer konsequent sägt. Normalerweise stört mich sowas ja wenig, durch die Aufregung bin ich aber wohl eh nicht in der Lage tief zu schlafen, und so bin ich früh noch etwas müde. Nach einem super leckeren Frühstück packen wir die letzten Sachen ein und pünktlich kurz vor 9 sind wir am Bahnhof, Kontrollfoto mit der Bahnhofsuhr, und los geht es.

Das in Bayern viel Geld Zuhause ist mag vielleicht ein Klischee sein, dann jedoch eines was in sich stimmig ist. Über sehr gut ausgebaute Radwege führen die ersten Kilometer an einer wenig befahrenen Straße mitten durch Nadelwälder, perfekt zum einrollen und um das „On-the-Road“-Feeling richtig aufzusaugen. Die Berge sind noch gar nicht zu sehen, und so fahren wir durch kleine Dörfer mit wunderbaren Gehöften, schnuckligen Kirchen und vor allem vielen kleinen, mit einem aalglatten Asphalt ausgestatteten Sträßchen mitten hinein ins Alpenvorland. Bedingt durch die Streckenführung rollt es sich noch sehr gut, die Höhenmeter sind zu dem Zeitpunkt eher zu vernachlässigen, erst kurz vor der ersten Kontrolle am Achensee bei Kilometer 75 geht es wirklich berghoch, noch aber entspannt mit 3 bis 4 Prozent Steigung. So erreichen wir nach etwas mehr als drei Stunden die Bäckerei Adler, machen das erste Kontrollfoto und essen ein Stück Kuchen (Othello-Torte: Die Verkäuferin erklärte einem Rentnerehepaar vor mir was das ist „Schokotorte mit Nougatfüllung und…“ Gekauft!). Rainer mit Erdbeertorte und (zu dem Zeitpunkt noch alkoholfreiem) Bier, und einem Kaffee.

Weiter geht es am Achensee entlang, einer wunderschönen Gegend. Der See funkelt und glitzert in der Sonne nur so vor sich hin, mit den umliegenden Bergen ein klasse Panorama. Passend dazu führt unser Radweg immer am See entlang, ohne Autoverkehr, nur mit den vielen Touristen, die nur selten Platz machen wollen. Das tut unserer guten Laune aber keinen Abbruch, und schon geht es über eine schnelle Abfahrt rein ins Inntal, wo wir noch einmal 30 eher flache Kilometer mit nur kurzen Steigungen zu überwinden haben. Bis hierhin haben wir gerade einmal 1200 Höhenmeter auf 110 Kilometern überwunden, was unserem Schnitt richtig gut tut, aber die Angst vor dem was dann noch konzentriert auf uns zu kommt etwas erhöht.

In Volders biegen wir aus dem Tal ab, und stehen urplötzlich in einer Wand mit 17-19% Steigung, mit der ich überhaupt nicht gerechnet habe. Der Brenner soll ja doch eher flach sein habe ich mir sagen lassen, gut zu fahren…
Aber wir nehmen ja die alte Römerstraße Richtung Brenner, und das habe ich in meiner Vorbereitung völlig übersehen. Und so kämpfen wir zum ersten Mal richtig gegen die Berge, ich fahre vorne weg, Rainer immer ein paar Kurven hinter mir, und so wird es auch in allen anderen Bergen verlaufen. Ich habe nämlich vergessen dass ich beim letzten Mal Kassette wechseln hinten als größtes Ritzel ein 25er montiert hatte, und bezahle recht bald mit niedrigen Trittfrequenzen dafür. Damit ich wenigstens einen einigermaßen runden Tritt beibehalten kann muss ich einfach mehr Kraft aufwenden und schneller fahren, auch wenn ich manchmal gerne noch etwas ruhiger am Berg fahren würde, Zeit ist genug. So bin ich vorne weg, und warte an einem Brunnen in einem kleinen Bergdorf, kühle die Mütze und Buff, lege die Arme ins Wasser und überschütte die dampfenden Beine mit kühlem Nass. Die nächste Kontrolle ist in St.Peter am Brenner, bei Kilometer 137. Bis dorthin kämpfen wir uns stetig ansteigende Straßen mit einigen kurzen Abfahrten hinauf, während die Nachmittagssonne uns so richtig schwitzen lässt. Irgendwann biegen wir dann ins Tal und auf die Brennerstraße ab, die endlich so verläuft wie ich es im Kopf hatte. Nach einigen sanft ansteigenden Kilometern biegt Rainer Richtung Bäcker ab und ich habe nichts einzuwenden. Mozzarella mit Tomate, und eine Tirola Kola, die muss ich einfach probieren. Dazu kaufe ich im Supermarkt gleich eine kleine Dose Red Bull für die anstehende Nacht, als Notfalldoping sozusagen. Kleiner Spoiler, die Dose trinke ich am hellichten Tag kurz vor unserer Ankunft in München, und schleppe sie völlig umsonst alle Pässe hoch und wieder runter.

Nach der Pause geht es entspannt weiter, die letzten Kilometer auf den Brenner sind wieder etwas steiler aber schön zu fahren, und die nebenan verlaufende Brennerautobahn vermittelt einen Eindruck davon, was die Menschen bautechnisch leisten können. Unter den riesigen Betonsäulen kommt man sich als einzelner Mensch ganz klein vor, ein Gefühl das die großen Pässe mir später ebenso vermitteln werden.
Oben am Brenner regiert der Kommerz, überall Schilder mit „Rabatte, Ausverkauf, Schnäppchen..“. Wir fahren schnell weiter, nicht einmal die italienische Landesgrenze wird so richtig wahrgenommen. Dafür läuft die Abfahrt nach Sterzing sehr gut, bis wir feststellen dass der Radweg den wir genommen haben sich von der Straße wegbewegt, und letztendlich völlig verschwinden wird. Also fahren wir einen Wirtschaftsweg entlang, und schieben am Ende noch 100 Meter um wieder auf die Bundesstraße zu gelangen und auf unserem Track zu bleiben. Schade eigentlich, an so vielen Stellen gibt es neugebaute Radwege, der Track jedoch ist eher auf Straßenfahren angelegt, so dass wir mehrmals kleine Abweichungen hinnehmen müssen. Hinter Sterzing geht es auf dem Eisacktalradweg entlang immer Richtung Brixen, leicht abschüssig und komplett neu angelegt. Wir scherzen öfter dass die Italiener wohl gesehen haben das wir dieses Jahr starten und daraufhin ihre Betonmischer angeworfen haben um uns einen Radweg der Extraklasse zu bieten. In Brixen bei Kilometer 200 gibt es zum Abendessen natürlich eine Pizza, la dolce vita sozusagen. Früh um 9 Uhr in München losgefahren und Abends um 20 Uhr in Italien Pizza essen… Wieviele Menschen können das schon von sich behaupten, ein unbeschreibliches Gefühl schon zu diesem Zeitpunkt. Zur Pizza gibt es für Rainer ein Bier und für mich einen Apfelsaft. Dazu muss man Wissen das Rainer sich als „Biertrinker mit Radfahrproblem“ bezeichnet, ziemlich treffend nach meiner eingehenden Analyse nach der Tour. Mit vollen Mägen geht es in der Abendsonne Richtung Waidbruck, immer weiter auf dem Radweg, links von uns die Eisack mit ihren reißenden Fluten, ringsum die hohen Berge. Wir genießen es noch ein wenig die Räder rollen zu lassen, denn ab Waidbruck beginnt der anstrengende Teil unserer Reise. Haben wir bis dorthin gut 2500 Höhenmeter erledigt, folgen auf den nächsten 220 Kilometern um die 7000 Höhenmeter, Pass an Pass an Pass.

Mit dem letzten Abendlicht beginnen wir den Anstieg auf den Ritten Richtung Klobenstein, der nächsten Kontrollstelle. Der aufgehenden Mond leuchtet uns den Weg während die Dynamolichter eher vor sich hin flackern, bei unserem Tempo nicht verwunderlich. Nach einer Stunde fällt mir auf dass nur noch die Hälfte des Mondes zu sehen ist, und Rainer erzählt mir das heute doch eine partielle Mondfinsternis stattfindet, und wir sitzen gleich in der ersten Reihe, toll. Durch eine kleine Baustelle schieben wir unsere Räder, und danach beginnen die auf der Website angekündigten steilen Abschnitte. Der Ritten ist nicht sehr hoch, nur 1300 Meter, aber immer wieder bis 16 Prozent steil. Wir kämpfen uns keuchend hinauf bis Klobenstein, ich höre Rainer hinter mir eher als das ich ihn sehe. Dafür fahren kaum Autos, und bis auf unsere Geräusche ist es völlig still. In Klobenstein ziehen wir uns lange Sachen an, um die Abfahrt ins Sarntal in der Nacht ohne zu frieren zu absolvieren. Hinter Klobenstein kommen allerdings erstmal noch 150 Höhenmeter, und kurz vor der Passhöhe steht eine Kirche die hell beleuchtet ist und einen tollen Anblick bietet, um einen Moment innezuhalten. In der Abfahrt reihe ich mich hinter Rainer ein, er hat eine Lupine Kopflampe auf dem Helm montiert und leuchtet uns die Serpentinen aus. Allerdings muss ich beim Anbremsen aufpassen, Rainers Scheibenbremsen verzögern beißend, und ich muss deutlich früher in die Eisen gehen um ihn nicht abzuräumen. Zur Erholung ist die Abfahrt somit nicht wirklich geeignet, zu sehr muss man sich konzentrieren um im Halbdunkel nicht doch mal ein Schlagloch zu übersehen und alle Serpentinen vernünftig zu durchfahren. Im Sarntal angekommen geht es dann sofort wieder richtig los, die Straße steigt gleich wieder an Richtung Penser Joch. Es liegen nun etwa 35 Kilometer vor uns, durchgehend ansteigend. Mit dieser Aussicht für die nächsten Stunden eröffnet Rainer mir dass er ziemlich müde ist, und ein paar Stunden schlafen will. In Bungschen finden wir die perfekte Gelegenheit, Bushaltestellen auf beiden Seiten der Straße, schöne große Holzbänke. Rainer links, ich rechts, Schlafsack raus, rein in den Biwacksack und alle Jacken an. Meine große Angst während der Ruhepause zu frieren ist unbegründet, es ist wirklich warm und selbst mitten in der Nacht kann man ein paar Minuten außerhalb vom Schlafsack verbringen um Zähne zu putzen und noch etwas zu essen (in umgekehrter Reihenfolge). Fast drei Stunden schlafe ich ungewöhnlich gut, die Bank ist zwar hart aber man gewöhnt sich dran.

2. Tag

Gegen halb vier fährt mal wieder ein Auto vorbei, bremst ab, kommt zurück. Ich setze mich schnell auf, ein bisschen ängstlich bin ich immer wenn ich des Nachts draußen schlafe. Es sind die Carabinieri, die an der Bushaltestelle anhalten und aussteigen. Wir unterhalten uns, sie fragen ob es uns gut geht und was wir denn hier machen. Ich erkläre ihnen das wir auf einer Radtour unterwegs sind, von München gestartet, und jetzt ein paar Stunden hier ausruhen um gleich weiterzufahren. Sie sind völlig verblüfft, gucken ungläubig und sind dann jedoch beruhigt, dass es uns gut geht. Nur ob uns nicht kalt wäre fragen sie, was ich gottseidank auch um 4 Uhr noch verneinen kann. Sie lassen uns allein, und Rainer bewegt sich etwas. Ich frage ob er noch schlafen möchte, aber wir entscheiden uns so langsam die Sachen einzupacken und weiterzufahren. In der Dämmerung machen wir uns auf den langen Weg aufs Penser Joch. Anfangs ist die Steigung wirklich minimal, gut um warm zu werden und die strapazierten Muskeln etwas zu lockern. Ab Weißenbach steigt die Straße mit 6-8% an und hinter Pens wird es dann richtig hart. 4 Kilometer mit durchgehend 10 Prozent, gefolgt von 3 Kilometern mit 12 Prozent sind keine angenehme Aufgabe, vor allem nicht mit dem Gepäck. Allerdings entschädigt die aufgehende Sonne für die Schmerzen, dazu sieht man Kühe, Pferde und Ziegen die sich auf den Berghängen richtig wohl fühlen. Auf den letzten Kilometern ist die Landschaft um uns einfach wunderschön, und ich halte am Schild mit der Höhenangabe „2000m“. Mein erster 2000er, und ich bin ziemlich stolz drauf.
Oben angekommen folgt das obligatorische Kontrollfoto mit Passschild, ich warte auf Rainer und wir genießen einfach den Moment. Wir können nicht wirklich fassen dass wir von dort unten aus dem Tal herkommen sollen, alles ist etwas unwirklich.

Der Hunger treibt uns dann jedoch weiter in die Abfahrt Richtung Jaufenpass, es läuft schön flüssig und wir lassen es rollen. Unten angekommen steuern wir den ersten Bäcker den wir finden können an, ein Glücksgriff. Die Frau hinter der Theke ist super nett, wir wählen Frühstück, ich süß und Rainer herzhaft-vegetarisch. Das Croissant kommt frisch aus dem Ofen, trieft vor Butter und ist mit Schokolade gefüllt, Rainer bekommt ein frisches Ei („Ich habe ihnen ein 6-Minuten Ei gemacht, ist das okay? Ist es natürlich!“) und wir essen bis wir fast platzen. Währenddessen zieht eine Gruppe von 15-20 Mountainbikern an uns vorbei, und ich sage zu Rainer dass wir diese sicher im Anstieg wiedersehen werden. Nachdem wir die Flaschen aufgefüllt, uns bei der netten Bäckereifachverkäuferin verabschiedet und noch einmal die Handys gecheckt haben geht es direkt hinein in den Jaufenpass, den ich als einzigen auf dieser Tour völlig ohne Pause fahre. Rainer weiß Bescheid, und so nehme ich den Anstieg doch relativ schnell in Angriff, und nach einigen Kilometern sehe ich die ersten Mountainbiker wieder. Es wird gegrüßt, und die Motivation steigt. Nach 310 Kilometern fange ich an ein bisschen Jagd auf die Fahrer vor mir zu machen, ich bin froh dass es so gut läuft und Spaß macht. Das Wetter ist genial, die Steigungsprozente sind gut zu bewältigen und es geht einen Meter nach dem anderen hinauf. In der vorletzten Kehre überhole ich die letzte Mountainbikerin der Gruppe und freue mich nach knapp anderthalb Stunden (schneller als manche Ötztaler-Bezwinger aus meiner Freundesliste, sehe ich Zuhause) am Passschild anzuschlagen. Rad abstellen, Kontrollfoto, die ankommenden Radfahrer abklatschen und einen Johannisbeersaft trinken.

Rainer braucht eine knappe Stunde länger, und als ich ihn auf den letzten Kehren sehe fahre ich nochmal hinunter um ihn abzuholen. Es passt einfach alles an diesem Tag. Oben wird noch ein wenig Pause gemacht, Rainer bestellt sich zwei alkoholfreie Bier und einen Strudel, ich bin noch satt vom Frühstück. Nachdem wir genug genossen haben geht es in die schnelle Abfahrt hinunter nach St. Leonhard, wo mir erstmals so richtig schlecht ist. Die Maltodosierung ist etwas hoch, dazu eine Brausetablette pro Flasche für den Geschmack und die Temperatur von um die 32 Grad gibt mir richtig einen mit. Rainer ist besorgt als ich angerollt komme, scheinbar sehe ich mies aus, und wir entscheiden noch etwas zu essen bevor es richtig ins Timmelsjoch geht. Wir haben einen gehörigen Respekt, jeder kennt wohl die Geschichten über diese Straße. Ewig lang, teilweise auch steil, kein Schatten und gefühlt tausende Autofahrer die klar machen dass ihnen die Straße gehört und sie jederzeit unser Leben auslöschen könnten. Die ersten Kilometer zerren gehörig an den Nerven, aber irgendwann wird es besser und je höher wir uns schrauben desto angenehmer wird es. Allerdings sind die Trinkflaschen schnell leer und es gibt nur wenige Möglichkeiten für Nachschub, und somit fahre ich solange bis mir eine kleine Wassertränke auffällt. Dort angehalten, Flaschen gefüllt, Mütze und Buff sowie Armlinge nass gemacht, immer wieder kalte Umschläge auf den Sonnenbrand an den Armen, und warten auf Rainer. Dieses Mal will ich nicht den ganzen Pass fahren ohne ihn zu sehen, vielleicht baut es ihn auch etwas auf wenn ich warte und er sieht dass er nicht alleine ist. Teamwork ist für mich ebenfalls ein essentieller Bestandteil unserer Unternehmung, auch wenn wir unterschiedlich schnell am Berg sind. Als er die letzte Kurve bis zum Wasser entlang kommt sieht er schon richtig fertig aus, und ich bin einmal mehr erstaunt. Immerhin 39 Jahre älter als ich, und trotzdem ohne viel zu klagen solche Touren durchzuziehen. Ich winke ihm zu, und er ist froh über die kleine Pause und etwas Erholung. Bis hierhin hält das Timmelsjoch alles was es verspricht, heiß und hart und lang.

Nach der Pause wird es besser, irgendwann komme ich wieder in den Bergmodus und fahre einfach nach meinen Möglichkeiten immer weiter.
Das Alpenpanorama ist atemberaubend, und ich lenke mich damit ab dorthin zu gucken wo wir herkommen, und dorthin wo wir hinmüssen. Die letzten Serpentinen sieht man schon von weitem, „beeindruckend, und dort müssen wir hinauf“ denke ich mir im Kopf. Kurz vor dem Ende springt ein Murmeltier von links nach rechts über die Straße, schaut mich an und verschwindet in seinem Loch. Ich könnte schwören das es mir feierlich, vielleicht auch anerkennend, zugezwinkert hat. Irgendwann bin ich oben, der letzte Tunnel durchquert, ich setze mich auf eine kleine Steinmauer, lasse die Beine baumeln und denke an nichts. Ich fühle mich nicht unbedingt wie der König der Welt, habe eher ein Gefühl von völliger Freiheit und grenzenloser Freude. Hier oben fällt es außerordentlich leicht die Sorgen des Alltags von sich zu schieben und einfach mal zu genießen, den Kopf auf Durchzug zu schalten. Mir wird bewusst dass die Menschen im Angesicht einer solch gewaltigen Natur wirklich nur kleine Schachfiguren sein können. Nach 390 Kilometern oben auf dem Timmelsjoch zu stehen, das fühlt sich einfach richtig an. Und weil ich noch eine Menge Zeit hab bis Rainer oben ankommt putze ich noch schnell meine Zähne, irgendwas verrücktes wollte ich dort oben tun, was der Kopf halt so hergibt auf der Langstrecke.

Am Passschild machen wir dann wieder die Kontrollfotos, ziehen uns eine Jacke an und begeben uns auf die Abfahrt Richtung Sölden, mit dem Gegenanstieg zur Mautstation. Jetzt weiß ich was die Ötztalerfahrer immer damit meinen, es tut noch einmal weh, man quält sich mitten in der Abfahrt nochmal zwei Kilometer bergauf, obwohl der Kopf doch nur bergab will. Aber irgendwann haben wir auch diesen Abschnitt überwunden, und rollen bis Sölden hinunter. Dort ist Zeit fürs Abendessen, der Bäcker macht in 30 Minuten zu und wir bekommen alles was wir wollen zum halben Preis. Das Highlight ist Erdbeeryoghurt, verfeinert mit frischen Erdbeeren. Wir lassen es uns schmecken, genießen es dass 2/3 der Strecke geschafft sind. Dann wieder Flaschen auffüllen, Pulver hinzumischen, und weiter geht es. Im Tal bläst uns ein starker Wind entgegen, der die leicht abschüssige Straße eher wie eine Bergstraße erscheinen lässt. Wo normalerweise die Rennradfahrer in großer Zahl mit 35-40kmh Richtung Ötz ballern, sind wir mit 25 kmh unterwegs und kämpfen um jeden Kilometer, und bekommen gleichzeitig die einzigen zwei Wassertropfen auf unserer Tour ab, alles andere zieht südlich vorbei. In Längenfeld will Rainer kurz mal halten, ich wundere mich aber kann mir denken wieso. Er druckst etwas herum (lustig, wenn man bedenkt dass ich Rainer eh alle wichtigen Entscheidungen zuschiebe) und sagt dann dass er gerne eine Unterkunft für die Nacht suchen würde, dann vernünftig schlafen und früh gegen 4 Uhr weiterfahren. Da wir genug Zeit haben stimme ich natürlich zu, habe ich doch gemerkt dass seine Beine langsam schwer werden, und ein weiterer Pass ohne Pause heute keinen Sinn mehr macht. Außerdem gefällt mir die Idee den letzten Abschnitt entspannt und ausgeruht anzugehen, und so suchen wir schnell ein Zimmer für die Nacht. In Oetz finden wir eines, Rainer ruft kurz an, und einige Minuten später ist alles klar. Also fahren wir noch 15 Kilometer, und sind pünktlich kurz vor 8 an unserer Unterkunft. Die Vermieterin ist wahnsinnig nett, Räder in den Keller, Rechnung machen wir dann gleich, Frühstück um 4? Kein Problem, sie stellen uns alles in den Kühlschrank, legen 8 Bananen, unzählige kleine Muffins hin, selbst der Kaffee steht am nächsten Morgen schon da. Wir sind überglücklich, unsere Entscheidung war einfach richtig. Schnell heißt es schlafen, und nach 7 Stunden in einem weichen Bett und einem ausgezeichneten Frühstück machen wir uns auf den Weg zum Küthai.

3. Tag

Es dämmert schon langsam, und der Anstieg lässt sich wunderbar fahren. Nach 5 Kilometern ziehe ich meine Jacke aus, berghoch ist es warm genug, und weiter geht’s. Am schönsten ist es sich vollkommen ohne Verkehr in den Himmel zu schrauben und die Natur zu genießen. Die freilaufenden Kühe, der laute Bach in der Stille, dazwischen jede Menge wunderbare Serpentinen. Ein kurzes Durchatmen im Skiort Ochsengarten, bevor es in die bekannten Steilpassagen unterhalb des Stausees geht, aber ich habe in meinem Kopf verankert dass es der letzte große Pass, unser letzter großer Gegner, und ich fühle mich noch richtig frisch und das Fahren macht selbst in diesen Abschnitten noch viel Spaß. Oben angekommen setze ich mich in die Bushaltestelle die gleichzeitig als Kontrolle dient, ziehe alle Sachen an die ich so dabei habe und warte. Außerdem erspähe ich den Teambus von Jumbo-Visma, selbst die Profis trainieren hier oben, muss ja eine tolle Gegend sein. Rainer kommt 40 Minuten später an, ihm hat die Kälte am Morgen etwas den Zahn gezogen, trotzdem eine klasse Leistung wie er sich bis hier oben voran gekämpft hat. Eine lange Pause machen wir nicht, dazu ist es noch etwas zu frisch, aber die Zeit für Fotos und Scherze nehmen wir uns natürlich immer.

Mit drei Jacken und der Regenhose stürze ich mich in die Abfahrt, die langen Geraden laden ein zum schnellen Abfahren, man kann das Rad richtig laufen lassen und die Kilometer fliegen nur so vorbei. Viel zu schnell sind wir wieder unten im Tal, und haben zum ersten Mal seit Waidbruck wieder ein paar flache Kilometer vor uns. Ich würde gern bis Telfs durchfahren und dort etwas Essen, Rainer möchte jedoch schon in Kematen frühstücken, also machen wir es so. Zwei Leberkäsebrötchen machen mich dann glücklich, die Sonne wärmt uns richtig auf, man kann schon spüren dass auch die letzten Kilometer ein Genuss werden. Auf der Überführungsetappe bis Telfs lassen wir es ruhig angehen, im Flachen fährt es sich immer noch richtig gut, und 20 Kilometer später sind wir im letzten kategorisierten Anstieg unserer kleinen Alpentour: dem Buchener Sattel. Laut Beschreibung 7 Kilometer mit durchgängig 10 Prozent, beflügelt durch die gute Laune fühlt es sich viel weniger steil an, und als mich ein Tiroler Radler überholt hänge ich mich an ihn dran und schaffe es bis zur vorletzten Kurve nicht reißen zu lassen. Oben angekommen wartet er auf mich und wir unterhalten uns etwas, und er ist beeindruckt von unserer Tour. Er trainiert heute für den Ötztaler und fährt seine Intervalle, und weiß wie anstrengend die Pässe so sind. Nach 5 Minuten verabschiedet er sich, und ich sehe später bei Strava wer er ist. Seitdem hat er einen Abonnenten mehr, und ich auch. Manchmal sind soziale Netzwerke ja auch richtig nützlich, schönes Gefühl. Rainer ist schneller oben als sonst, die Wärme tut gut und er ist wieder fit, typisch Randonneur, irgendwann geht’s immer wieder bergauf (über diesen Wortwitz muss ich tatsächlich auch Zuhause noch lachen). Und ab jetzt rollen wir nur noch bergab scherzen wir uns zu, immerhin stehen mehr als zehntausend Höhenmeter auf dem Garmin, und wir haben nur noch 90 Kilometer zu fahren.

Und wirklich, es läuft einfach alles. Die nächsten Kilometer sind leicht abschüssig, wir rollen durch grüne Wiesen und kleinere malerische Orte, einmal müssen wir anhalten um an einer Kirche Wasser nachzutanken, und hinter Mittenwild essen wir dann endlich mal ein Eis. Ein bisschen schämen müssen wir uns, denn in Italien haben wir es nicht geschafft einen vernünftigen Eisbecher zu organisieren. Müssen dann wohl nochmal los, tut mir leid Rainer. Mein Ruf steht ja da auch irgendwie auf dem Spiel.

Gestärkt durch diese kleine Pause verfliegen die Kilometer bis zur letzten Kontrollstelle sehr schnell, es geht entlang des Walchensees Richtung Kochel am See und weiter nach Wolfratshausen. Ein bisschen ungewohnt sind die flachen Kilometer jetzt und kurzzeitig stellt sich ein bisschen mentale Müdigkeit bei uns beiden ein. Rainer ist doch auch etwas kaputt (beruhigt mich ungemein) und ich bin etwas traurig dass es sobald vorbei sein wird. Mein Freilauf macht noch ein paar Zicken und will sich nicht mehr drehen, ansonsten geht aber alles glatt. Über eine schöne Fahrradstraße mitten durch einen kühlen Wald geht es Richtung Deisenhofen, ein letzter kleiner Anstieg, und schon sind wir wieder am Bahnhof und machen unser Abschlussfoto mit der Bahnhofsuhr. Und liegen uns in den Armen, es ist ein tolles Gefühl, wahrscheinlich unbeschreiblich für die meisten Menschen. 615 Kilometer, 10700 Höhenmeter, 55 Stunden unterwegs, davon 31 gefahren. Wir haben viele Pausen gemacht, viel gegessen, haben uns entspannt und einfach jeden Kilometer genossen.

Epilog:

Zurück auf unserem Hotelzimmer, frisch geduscht, neue Sachen angezogen (drei Tage dieselbe Radhose… sowas sollte man in Berichten vielleicht nicht erwähnen) versuchen wir es so richtig zu verstehen. Die Touren werden auf Strava hochgeladen, und wir freuen uns über die vielen Kommentare, genannt auch digitale Streicheleinheiten. Nachdem wir uns ein wenig ausgeruht haben schaffen wir es noch in ein griechisches Restaurant, essen alles was uns so vor die Nase kommt und wanken dann zurück ins Hotel um fast auf der Stelle einzuschlafen. Am nächsten Morgen geht es nach dem Frühstück wieder auf demselben Weg zurück nach Berlin, allerdings ist es etwas surreal nicht mehr auf dem Rad sitzen zu müssen und zu dürfen. Dafür stellen wir im Stau fest dass wir einen ähnlichen Musikgeschmack besitzen, und schauen Youtube-Videos von George Thorogood and the Destroyers und Neil Young, und hören uns Podcasts an. Die Zeit geht ziemlich gut rum, ich schlafe ab und zu mal ein, und in der restlichen Zeit erklären wir uns gegenseitig wie grandios wir unser Abenteuer fanden und wie glücklich wir sind es geschafft zu haben. Zu schnell ist die Fahrt vorbei, ein letzter Abschied am Bahnhof Ludwigsfelde und dann sind 5 Tage rum. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, die vergangenen Tage scheinen einer anderen Zeitrechnung zu entstammen. Es wird wohl eine Weile dauern bis ich verstanden habe was diese Woche alles passiert ist, was wir alles gesehen und erlebt haben.

Fazit:

Nachdem ich vorher skeptisch war ob ich die Ötztalrundfahrt wohl finishen könnte hat sich herausgestellt dass mit einer entspannten Fahrweise und einer gewissen Bergfahr-Affinität sowie dem richtigen Wetter keine Probleme mit dem Zeitlimit zu erwarten sind. Und trotz des klaren Fokus dieser Saison auf einen Start in Paris im August war das doch eher spontane Einschieben unserer Tour genau die richtige Entscheidung, ebenso wie die Tatsache innerhalb der Woche zu fahren, um dem Verkehr in den Alpen grundsätzlich schon einmal aus dem Weg zu gehen. Nachts nicht komplett durchzufahren sondern jeweils ein paar Stunden zu schlafen war ebenfalls gut, um tagsüber konzentriert die Pässe zu befahren und auch den Blick für die vielfältigen Panoramen zu behalten. Ich kann es vielen Menschen die vielleicht drüber nachdenken nur empfehlen, versucht es und genießt die Landschaft.

Ich kann mich am Ende nur bei Rainer und auch den Menschen bedanken, die mir immer wieder solche Touren ermöglichen und mich unterstützen, auch wenn es mal nicht so läuft. Es sind Erinnerungen die man sein ganzes Leben lang behalten kann, und an welche man sicher immer wieder zurückdenkt. Außerdem kann ich sagen wie froh ich wieder einmal bin dass ich so viele verschiedene, aber alle auf ihre Weise einzigartige Menschen beim Fahrradfahren kennen gelernt habe. Danke euch Allen, wir sehen uns.

Euer Finisher der Ötztalrundfahrt Nr.19 in 2019,
Ole