Monat: September 2022

Scandinavia ´22 Teil 2: Anreise in drei Tagen

Tag 1

Ich sitze planmäßig um 5 Uhr auf dem gepackten Rad, die ersten Tritte und Kilometer auf dem stillen, dunklen Marschbahndamm Richtung Innenstadt sind unsicher, das Gepäck fühlt sich zu schwer an, der Rucksack mit Zelt ebenso. Bis zum Hauptbahnhof klappt alles, und außer einer Verspätung von 20 Minuten in Flensburg kann der Formteil mit dem Zug schon einmal abgehakt werden.

Auf bekannten Wegen geht es aus Flensburg auf kleinen Wirtschaftswegen entlang der Grenze hinüber nach Dänemark. So richtig angekommen bin ich in meinem großen Solo-Abenteuer noch nicht, alles läuft schleppend, überraschenderweise der Kopf noch mehr als der Körper. Die mentale Last der nächsten Tage ist doch mehr als ich mir im warmen Wohnzimmer bei der Planung vorgestellt hatte. Dort sieht man immer nur die Kilometer, Zahlen, die grundsätzlich keine Bedeutung haben und die man gefühlt schon tausend Mal gefahren ist. Aber hier draußen auf der Straße, den Wind im Gesicht, ringsum sonnig-diesige Stimmung, hier ist alles anders. Hier wird mir mal wieder bewusst, das jeder Kilometer einer Reise erst gefahren werden muss, und nichts grundsätzlich von sich aus kommt. Für den Start reicht es immer weiter zu treten, die schweren Gefühle in den Hintergrund zu drängen bis sie irgendwann weggehen, denn das passiert immer.

Nach ein, zwei Stunden auf unfassbar ruhigen Straßen wird der Tritt langsam aber stetig besser, ich komme rein in den Genuss des Radfahrens. Nur der unstetige Gegenwind aus Nordwest, der mir die meiste Zeit direkt ins Gesicht bläst nervt ein bisschen, aber solange es trocken ist kann ich ganz gut damit leben. Es geht vorbei an niedlicher Heidelandschaft, schneeweißen Kirchen und kleinen Hügeln immer weiter hinein ins Radparadies Dänemark. Ich fange an mich zu erinnern warum ich so gerne hier bin, obwohl für viele Menschen die ausgesuchten Straßen einfach langweilig wirken würden. Eine bessere Flucht vor dem Alltag, den schlechten Nachrichten auf der ganzen Welt gibt es für mich kaum, der Frieden scheint greifbar nah wenn man einfach neben ein paar Kühen am Weidesrand steht und ihnen beim kauen zuschaut.

Am Ende des ersten Tages gelange ich zum ersten großen Highlight der geplanten Strecke, zwei von Hand betriebenen Seilzugfähren im Naturschutzgebiet Skjern Ådal am südöstlichen Ende des Ringkøbing Fjords. Der Fluss Skjern ist der wasserreichste Fluss Dänemarks, und verzweigt sich kurz vor der Mündung in den Fjord in ein Flussdelta beachtlicher Größe mit Feuchtwiesen, Seen und Sümpfen. Mittendrin befindet sich das Naturcenter des Naturschutzgebiets, in welchem die Vielfalt der Vogelarten, der Naturschutz und alles rund um die Landschaft dargestellt werden. Aufgrund des guten Vorankommens entschließe ich mich, einen kurzen Halt einzulegen und mir alles in Ruhe anzuschauen, an diesem Tag bin ich der einzige Gast, offen ist dennoch. Angst vor Vandalismus muss hier in Jütland augenscheinlich niemand haben. Bei der Weiterfahrt bekomme ich die streckenbedingten Anstrengungen ordentlich mit, der einzige Weg durch das Gebiet ist ein mit losem Schotter und Sand aufgeschütteter Wanderweg, unterbrochen nur durch die beiden Fähren. Ich kämpfe mich mit Gepäck langsam voran, und muss an die dünnen Rennradreifen denken, die ja noch ein paar Kilometer halten sollen und schon vor dem Start einige tausend Kilometer zurückgelegt haben. Für heute enttäuschen Sie mich nicht, trotz Zusatzgewicht klappt alles wie am Schnürchen, nur an den Fähren muss ich kurz alle Kräfte im Oberkörper zusammennehmen, um die schweren, für mehrere Personen konstruierten Ladeklappen auf- und wieder zu zu bekommen.

Anleitung Handseilfähre
Handseilfähre
Eine Fährfahrt die ist lustig 🙂

Nachdem ich wieder festen Boden unter den Füßen habe geht es auf dem Fjorden-Rundt Radweg weiter Richtung Tagesziel, die Stadt Ringkøbing und speziell zwei kleine Shelter direkt am Wasser will ich erreichen. Zwischendurch gibt es noch Abendessen an einem kleinen Supermarkt, in welchem zu der Jahreszeit mehr deutsche Feriengäste einkaufen als Einheimische. Vor dem Supermarkt gibt es Bänke und Steckdosen, für E-Bikes und für normale technische Geräte. Drei jugendliche Kurven auf ihren Rädern über den Parkplatz und trinken ein Bier, wollen wissen wo es hingeht und was ich mache. Die Zeit verfliegt schnell in solchen Pausen, und auch wenn ich die Ziele beim Erzählen etwas abschwäche n sind sie doch ordentlich erstaunt. Wir verabschieden uns, ich lehne das angebotene Bier ab und fahre die letzten Kilometer im Sonnenuntergang am Fjord entlang zu meiner Nachtbleibe.

Abendessen!

Am Shelter angekommen treffe ich drei Dänen, die gerade ihr Faltkanu aus dem Wasser ziehen. Es sind Großvater, Vater und Sohn, die zum Fischen den ganzen Tag auf dem Fjord waren. Sie erzählen mir von ihrem Urlaub während ich mein Innenzelt im Shelter aufstelle und meine wenigen Sachen auspacke. Der Kleine ist ganz traurig weil Sie nichts gefangen haben, also geht es mit seinem Vater noch einmal ans Wasser, ein letzter Versuch. Ich springe gleichzeitig einmal kurz rein um mich zu waschen und zu erfrischen, eine Wohltat nach dem langen Tag. Noch kurz mit Zuhause telefonieren, und dann wird es langsam dunkel und ich liege im Schlafsack. So undefiniert wie der Tag begonnen hat bin ich mit dem Verlauf doch sehr zufrieden, es waren wieder einige tolle Momente dabei. Und noch viel wichtiger: Ich bin nach 230 Kilometern angekommen im Urlaub, im Abenteuer.

Tag 2

Der heutige Tag beginnt etwas gestresster als gestern. Mein Plan sieht eine größere Fähre vor die in Thyborøn jede volle Stunde abfährt und die ich gerne um 10 Uhr erwischen möchte. Bis dahin sind jedoch 83 flache Kilometer zu fahren, und mit dem für mich typischen Zeitpuffer ist der Start auf sechs Uhr gesetzt. Schnell das Zelt ans Rad und alle Sachen in die Taschen geräumt, und schon gehts los. Die große Stadt schläft noch vor sich hin, und so kann ich die größeren Straßen aus der Stadt ohne Stress nutzen bis ich einige Kilometer später wieder abbiege auf die geliebten kleinen Straßen zwischen noch kleineren Dörfern. Zunächst geht es Richtung Nordwest, ich will so schnell wie möglich an die Küste kommen und die bei der Planung herbeigesehnte Küstenstraße erreichen. Seit der Transcimbrica und der DK 1000 bin ich fasziniert von diesem Abschnitt zwischen Nordsee und Nissum Fjord. Immer geradeaus, links die Dünen, rechts der Fjord, immer wieder sind Sandverwehungen auf Straße und Radweg, es herrscht eine himmlische Ruhe so früh am Morgen. Ich könnte ewig weiter auf dieser Straße fahren, vor allem weil es heute keinen Gegenwind hat und die Dünen den Seitenwind gut abschirmen. Selbst so früh ist es schon 20 Grad warm, dieser Sommer übertrifft sich mit Sonne und Trockenheit (leider) eins um andere Mal, für mich ist es in diesem Moment ein Segen.

An der Westküste immer geradeaus!

Pünktlich eine halbe Stunde vor Abfahrt der Fähre komme ich in Thyborøn am Fähranleger an und packe mein Frühstück aus. Gleichzeitig hole ich mir schon einmal die passenden Tickets am Automaten, alles klappt ohne Probleme. Im Bad will ich mir gerne Wasser in die leeren Trinkflaschen füllen, doch der Wasserhahn funktioniert aus irgendeinem Grund nicht. Die Fährangestellte, mit der ich mich kurz zuvor unterhalten habe, rennt auf einmal los und ruft mir zu dass ich warten soll. Fünf Minuten später kommt sie ganz außer Puste wieder an und hat drei abgepackte Flaschen Wasser dabei, die sie mir schenkt. Ich werde ganz verlegen und will erst ablehnen, ganz so viel Wasser brauche ich doch eigentlich nicht, aber sie lacht und freut sich unheimlich helfen zu können, so dass ich mit fast drei Litern Wasser auf die Fährfahrt gehe. Sie wünscht mir eine gute Reise, und verschwindet wieder in ihrem Büro. Fast zeitgleich kommt ein älterer Rennradfahrer an, der auch über die Fähre will. Wir gehen zusammen an Bord, und unterhalten uns ein bisschen über die Pläne. Er hat fast 50 Jahre im örtlichen Kieswerk gearbeitet, ist jetzt in Rente und hat Waden aus Stahl. Er will zu seiner Familie nach Aalborg fahren, etwa 120 Kilometer sind es, zu Besten Zeiten hat er dafür nur 3 Stunden gebraucht, heute werden es bei dem guten Wetter auch keine 4 werden. Nach dem Anlegen ist er schnell wieder weg und ich fahre langsam hinterher. Irgendwo im Nationalpark Thy ruft es auf einmal von hinten, und er kommt wieder angebraust, hat noch einen Bekannten im Ort getroffen. Er nimmt etwas raus, und ich kann mit dem Rückenwind annähernd seine Geschwindigkeit fahren, vor allem an den Hügeln habe ich doch kleine Vorteile. So komme ich doch noch in den Genuss seine Geschichten zu hören, er erzählt von alten Rennen in der Gegend, von großen Touren und allem drum und dran. Aber er interessiert sich auch für meine Pläne, und so bekommen wir fast eine Stunde auf den kleinen Wegen des Nationalparks rum ohne es zu bemerken.. Als wir auf eine größere Straße einbiegen und nicht mehr nebeneinander fahren können, verabschiedet er sich und ist mir nichts dir nichts über den nächsten Hügel verschwunden während ich froh bin etwas rausnehmen zu können.

Nationalpark Thy

Zwischendurch habe ich mit Martin aus der Schweiz geschrieben, er ist mit seinem Velomobil ebenso wie ich auf dem Weg nach Hirtshals zum Start des SBS, und hat ein Zimmer mit zwei Betten in Hune für heute gemietet. Er lädt mich ein nicht im Shelter zu schlafen sondern vorbeizukommen, und so ist das Tagesziel etwas klarer als zuvor. Nach Verlassen des Nationalparks komme ich durch Thisted, wo ich wieder etwas über die Transcimbrica nachdenken muss, und dann an den zweiten Highlight-Abschnitt des Tages, immer entlang des Thisted Bredning (einer Art Haff) und des Limfjords. Ein Damm, auf dem man zwischen Fjord und einem kleinen See entlangfahren kann, ist gesperrt, so dass ich um den kleinen See auf einer kleinen Schotterstraße herumfahren muss. Beachtlich sind die Fremdsprachenkenntnisse der Bauarbeiter: Mir wird einwandfrei erklärt wie ich auf die kleine Schotterstraße komme, wo und wie ich abzubiegen habe und wie weit das alles geht. Hervorragender Service! Später komme ich dann aber tatsächlich noch an eine Stelle an der sich links und rechts von mir wieder Wasser befindet, ein herrlicher Anblick! Auch der geschotterte Damm stört angesichts solcher Natur überhaupt nicht beim Fahren.

Der Limfjord im Norden Dänemarks

Etwas später brauche ich langsam eine Pause, und finde an einem Campingplatz einen netten Dänen, der mir den Kiosk aufschließt und mir ein Eis anbietet. Aber ich muss kein fertiges Stieleis nehmen, er hat richtige Kugeln und macht sie extra groß, dazu gibts eine gekühlte Cola. Draußen ist es irre warm geworden, und so unterhalten wir uns während ich das Eis im Schatten zu mir nehme etwas über die Gegend. Jetzt im Sommer ist hier alles voll von Feriengästen, sein Campingplatz quillt fast über, aber in wenigen Wochen wird sich das schon wieder ändern erzählt er. Dann kommen nur noch die Abenteurer, die Vogelbeobachter und die Radfahrer, die lieber außerhalb der Saison fahren. Wir verabschieden uns, er sagt bis Kristiansand ist es ja nicht mehr weit, die Fähre fährt doch dreimal am Tag. Ich belasse es dabei, dass wir einmal mit dem Rad rings ums Kattegat herum und auf dem Rückweg die Fähre von Kristiansand nach Hirtshals nehmen ist wahrscheinlich nicht so leicht zu erklären.

Eis!

Etwas später biege ich ab vom Fjord, hinein in die hügelige Landschaft Nordjütlands, mit Nadelbäumen und Heidelandschaft. Auch diese Strecken sind bekannt, ich genieße die Erinnerungen noch etwas und rolle durch die Nachmittagssonne nach Hune. Dort bin ich unschlüssig, als es plötzlich vom Supermarktparkplatz plötzlich laut „Ole“ ruft. Es ist Martin, der schon eingecheckt und geduscht ist. Wir laufen die letzten Meter zur Unterkunft, ich freue mich ihn in echt kennenzulernen, es ist herrlich. Dann bleibt nur noch auspacken, die Sachen einmal durchwaschen, aufhängen und trocknen lassen. Ich gehe auch noch kurz einkaufen, Nudeln und Getränke für den Abend. Wir lassen es uns gut gehen, Martin erzählt von seinen anderen Radreisen und von diesem und jenen, die Zeit geht schnell rum. Fürs Frühstück bleiben noch Nudeln übrig, und bevor es zu spät wird gehts auch schon ins Bett. Es war ein traumhafter Tag mit 220 Kilometern, einer Fährfahrt und vielen genialen Abschnitten in der Natur, dazu kommen die Begegnungen mit den Menschen. Bevor ich zu lange nachdenken kann bin ich auch schon eingeschlafen, während Martin noch seinen Blog von unterwegs schreibt.

Tag 3

Am Pausentag wache ich ausnahmsweise später auf, um 8 klingelt der Wecker. Vor dem Fenster höre ich den starken Regen fallen, und drehe mich noch einmal um. Eine Stunde später kann ich mich der Realität nicht mehr verschließen, und das Regenradar sagt eine Lücke kurz darauf voraus. Nach ein paar Nudeln von Gestern und schnellem Zusammenpacken verabschiede ich mich fürs Erste von Martin und mache mich auf die heute geplanten 50 Restkilometer bis Hirtshals. Die Straßen sind nass, teilweise steht das Wasser auf den Radwegen, aber von oben kommt vorerst nichts mehr. Auf bekannten Wegen geht es über hügelige Straßen Richtung Rubjerg Knude, einer bis zu 70 Meter über dem Meer aufragenden Wanderdüne, eine einmalige Naturschönheit Jütlands. Oben befindet sich der bekannte Rubjerg Knude Fyr, ein Leuchtturm, der im Jahr 1900 direkt auf der damals nur 5-7 Meter hohen Düne gebaut wurde und inzwischen 70 Meter von der Küste ins Inland versetzt wurde, um dem unvermeidlichen Sturz ins Meer zu entgehen. Oben fängt es langsam wieder an zu regnen, so dass ich mich auf die letzten Kilometer mache.

Bis Hirtshals passiert nicht mehr viel, die Regensachen dürfen noch ein bisschen zeigen warum sie dabei sind und kurz darauf stehe ich vorm Skaga Hotel, in welchem der Start am nächsten Tag erfolgen wird. Ich setze mich fürs Erste auf die überdachte Terrasse und schaue auf den Parkplatz. Zwei weitere Räder sind schon zu sehen, die meisten kommen aber erst in einigen Stunden an. Eine halbe Stunde später traue ich mich an die Rezeption und bekomme meinen Schlüssel schon deutlich vor der angekündigten Eincheck-Zeit ausgehändigt, so dass ich es mir in meinem Zimmer gemütlich machen kann. Warm duschen, Sachen zum trocknen ausbreiten und dann wieder runter um mich mit den ankommenden Radfahrern zu unterhalten, die Zeit vergeht schnell.

Martin kommt zwei Stunden später an, er hat noch ein bisschen im Motel gewartet und die Landschaft genossen, im Velomobil wird man halt nicht so nass. Kurz vor 2 kommen die Organisatoren des Brevets, ich erkenne Jan aus der Kopenhagener Ecke wieder, bei dem ich im Januar das Happy New Year Brevet nicht beendet habe, er freut sich ebenfalls mich zu sehen. Außerdem lerne ich Hamid und seine Frau kennen, beides Amerikaner. Er fährt alle Superbrevets die es in einem Jahr so gibt, und sie mit dem Auto immer zu den Tageszielen hinterher. Pünktlich um 16 Uhr fängt das angesetzte Briefing an, es wird ein kleiner Vortrag über die Eigenheiten des Radfahrens in den skandinavischen Ländern, über die Nutzung der Fähren auf der Strecke und die Unterbringung in den Hotels auf den Zwischenzielen erläutert. Vieles davon hat Jan mir im Januar schon erklärt, so dass ich ganz entspannt bin. Nach dem organisatorischen Teil folgt noch die Abnahme des Rads sowie die Aushändigung des Trikots, und dann das Abendessen. Da es am nächsten Tag um 4 Uhr Frühstück geben soll verabschieden sich alle früh, ich telefoniere noch kurz mit Carola und dann gehe auch ich ins Bett. Die Sachen für morgen sind gepackt, die Taktik klar: Ab morgen früh um 5 wird die nächsten vier Tage Rad gefahren, viel Rad.

Die noch unbefleckte Brevetkarte

Scandinavia ´22: Teil 1

Anmeldung, Planung, Motivation

Nach der Pause hinsichtlich „langer“ Brevets in 2021 und dem Ellenbogenbruch fühle ich mich nach einem radreichen Herbst in der Lage, in 2022 wieder einen großen Plan zu verfolgen. Im Januar flattert der Urlaubsplan in die Post und beinhaltet gleich schlechte Nachrichten: Drei Wochen Pflichturlaub Ende August, also dann wenn bereits fast alle langen, interessanten Brevets vorbei sind. Vorher sind Prüfungs- und Hausarbeitsphasen, also keine Chance. Nach kurzer Niedergeschlagenheit werfe ich die Suchmaschine meines Vertrauens an und schaue in den Veranstaltungskalender. Tatsächlich sieht es mit der Auswahl nicht so rosig aus, aber halt! Vom 19.-22. August soll das SBS stattfinden, das Superbrevet Scandinavia.

Skandinavien, also Dänemark, Schweden und Norwegen (Finnland liegt nicht auf dem Track), in einer Tour? Ich bin sofort Feuer und Flamme und nerve Carola ein bisschen mit Überlegungen. Zum Start nach Hirtshals mit dem Rad anreisen? Nach dem Brevet noch eine Woche Norwegen anhängen? Danach wieder mit dem Rad nach Hause? Wieviel Rad geht in 3 Wochen Sommerurlaub?

Kurze Zeit später öffnet die Registrierung, ich bin einer der ersten eingeschriebenen Teilnehmer. Es gibt 25 Plätze für internationale Teilnehmer, die restlichen Plätze sind für skandinavische Randonneure reserviert. Beim Preis muss ich heftig schlucken, natürlich ist Skandinavien für einen Radurlaub inklusive Hotels, Fähren und Essen eine andere Hausnummer als P-B-P oder die normalen Brevets zum Selbstkostenpreis in Deutschland, für einen Studenten ist es nahe an zu viel. Ich rede mir ein dass es um meinen Jahresurlaub geht und das Geld auf dem Konto auch bloß weniger wird, lieber eine schöne Unternehmung mit wertvollen Erfahrungen, wird sich schon lohnen. Ab da vergesse ich die Pläne für etwa 7 Monate und verschwende kaum noch Gedanken daran.

Da auch das SBS eine vollständige Brevetserie als Qualifikation vor dem Start erfordert, fängt die detaillierte Planung kurz nach der erfolgreichen Absolvierung des 600er Brevets in Hamburg an. Die Strecke ist nahezu vollständig veröffentlicht, die verschiedenen „Tagesziele“ sind bekannt und der Newsletter spricht von „baldigem Treffen in Hirtshals“. Die Vorfreude steigt, besonders nach der geglückten Generalprobe mit Rainer bei der Superrandonnée eine Woche vor meinem Urlaubsbeginn.

Der Plan

In den Wochen vor dem Start habe ich Komoot stundenlang malträtiert. Dabei ist das Problem gar nicht das Brevet, die vier Tage, die Strecke und die Rahmenbedingungen sind sowieso festgelegt. Allerdings habe ich Vor- und Nachher ja noch Urlaubstage zur Verfügung, während Carola schon wieder arbeiten muss. Dementsprechend kann ich Anreise und Abreise etwas ausdehnen. Am Ende stellt sich der Plan wie folgt dar: Montagabend Carola vom Zug abholen, und ihr das Ein-Personen-Zelt abnehmen, mein Fahrrad schnell fertig packen und Dienstags um 5 Uhr den ersten Zug nach Flensburg nehmen, um von dort die gut 500 Kilometer bis zum Start in den folgenden drei Tagen zurückzulegen. Streckentechnisch hoffe ich möglichst die kleinsten noch asphaltierten Straßen bei der Planung ausgewählt zu haben. Dabei sollen die ersten beiden Tage jeweils über 200 Kilometer lang werden, damit am letzten Tag der Anreise ein wenig Erholung für die Beine vor dem offiziellen Start drin ist.

Plan Hinfahrt

Dann soll es die folgenden vier Tage um nichts anderes als Radfahren gehen, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, von einer Kontrolle zur nächsten. Ganz einfach eigentlich.

Die Planung des Rückwegs gestaltet sich etwas schwieriger, da ich im Prinzip viel Zeit, aber wenig Mittel zur Verfügung habe. Da das Zelt sowieso gesetzt ist, hoffe ich noch ein paar Tage Jedermannsrecht in Norwegen und Schweden ausnutzen zu können, bevor es mit der Fähre zurück nach Dänemark und mit dem Rad nach Flensburg gehen soll. In Kilometern ausgedrückt sind das etwa 700 in möglichen 4-5 Tagen. Es soll anders kommen, aber dazu im nächsten Teil mehr.

Plan Rückfahrt

Für die Hin- und Rücktour habe ich jeweils Übernachtungen in Sheltern bzw. im Zelt geplant, ein Umstand für den ich Dänemark einfach liebe. Neben hervorragender Infrastruktur sind die Naturlagerplätze, häufig mit Holzhütten, Feuerplätzen, teilweise Sanitär und Frischwasser ausgestattet, ein grandioser Teil des Landes. Da ich außerhalb der Ferienzeit unterwegs bin muss ich auch keine allzu großen Sorgen haben keinen Platz abzubekommen, und kann in der größten Not immer noch mein Zelt aufbauen.

Shelter auf dem Rückweg

Superrandonnée Rheingold: Teil 3

Tag 3

Der dritte und gleichzeitig letzte Tag beginnt quälend, das weiche Bett hält mich einige Minuten länger gefangen als geplant. Als ich aufs Handy schaue sehe ich eine neue Nachricht von Rainer aufblinken: Er ist vor wenigen Minuten bei Kilometer 470 gewesen, und schon im langen anstieg zur Hohen Acht, der höchsten Erhebung der Eifel. Plötzlich bin ich wach, und schreibe ihm „dann hast du mich wohl überholt, ich beeile mich!“. So schnell wie möglich die Radklamotte angezogen, alles in den Gepäckträger geworfen und ab geht es, ebenfalls direkt in den Anstieg zur Hohen Acht. Fehlendes Frühstück hat mich noch nie gestört, heute wird es erst in Mayen, nach der Hohen Acht und weiteren 25 Kilometern eine Möglichkeit zur Verpflegung geben. Ich rechne ein bisschen rum und denke, dass ich Rainer eventuell oben am Kontrollpunkt abfangen kann. Der Anstieg zur Hohen Acht ist herrlich zu fahren, sehr gleichmäßig, und um 5 Uhr in der Früh nahezu verkehrsfrei. Über den geschotterten Parkplatz geht es die letzten Meter auf den Wanderweg hoch zum Bismarck-Turm. Die letzten Meter sind mit weit über 20 Prozent und einer 180° Wende nicht fahrbar, das war schon in der Beschreibung so angekündigt. Selbst mein Rad die letzten 100 Meter hinaufzuschieben ist im Dunkeln eine Herausforderung, mehrmals komme ich trotz meiner Mountainbike-Schuhe ins Rutschen. Oben ist schon ganz langsam etwas Licht am Horizont zu erkennen, nur Rainer habe ich bis hierhin nicht getroffen. Erstmal mache ich das obligatorische Foto, schaue mir den Turm an und überlege. Nach meiner Rechnung kann Rainer eigentlich nur vor mir auf dem Track sein, wahrscheinlich ist er auf dem Weg nach Mayen und plant dort ebenfalls eine Frühstückspause ein.

Kontrolle Hohe Acht, Eifel

Aus Angst vor Auskühlung mache ich mich schnell auf den Weg die Hohe Acht hinunter, direkt hinein in den Sonnenaufgang. Leider ist mir nach wenigen Minuten so kalt, dass die versuchten Fotos allesamt verschwommen sind und maximal unter dem Prädikat „Moderne Kunst“ einzuordnen.

Die Fahrt bis Mayen vergeht wie im Flug, und durch einige kleine Gegensteigungen wird es immerhin ab und zu etwas wärmer in den Extremitäten. Die letzte Abfahrt führt geradewegs durch ein kleines Tal mit Serpentinen nach Mayen hinein. Mein Weg führt mich zur erstbesten Tankstelle, einer Aral mit großem „Frühstücksbuffet“. Ich lasse mir ein Hotdogbrötchen aufwärmen, trinke einen großen Kakao und genieße die Gespräche der Handwerker mit der netten Tankstellenmitarbeiterin. Ein bisschen beschleicht mich das Gefühl nicht der erste Radfahrer zu sein, der bei ihr etwas zerschlagen und mit müdem Gesicht auftaucht und eine längere Pause braucht. Während des Essens stellt sich heraus, das Rainer erst oben auf der Hohen Acht ist, ich habe mich im Halbschlaf derart verrechnet dass ich wieder 20 Kilometer in Front bin. Er schreibt von den kalten Tälern, ist er doch kurz nach Mitternacht losgefahren um das Zeitlimit noch einzuhalten, harter Hund. Ich kann mir vorstellen wie die vielen kleinen Täler der Eifel in der Nacht ihm das Leben schwer gemacht haben. Ich verspreche ihm viele Möglichkeiten zur Verpflegung in Mayen, verschweige vorsichtshalber die Gegensteigungen und mache mit ihm aus, schonmal weiterzurollen. Hinter Mayen geht es auf einen wunderschönen Radweg, der auf einer ehemaligen Bahntrasse angelegt ist und die Stadt Mayen mit dem Ort Münstermaifeld verbindet. Die mit der offizielle Bezeichnung Maifeld-Radweg versehene Strecke ist ideal um die schweren Beine ein bisschen locker rotieren zu lassen, und die Kraft für die letzten Herausforderungen zu sparen. Highlights auf der Strecke gibt es dennoch einige, u.a. das Viadukt über das Tal der Nette, das Lehnen-Viadukt und die beiden ehemaligen Eisenbahntunnel Hausen 1 und Hausen 2. Leider ist das Nette-Viadukt völlig durch große Sicherheitszäune verunstaltet, biete mir aber dennoch einen imposanten Blick über das darunterliegende Tal.

Nette Viadukt auf dem Maifeld-Radweg

Die Strecke bis zur nächsten Kontrolle an der Burg Eltz ist in der Morgensonne unauffällig entspannt, es geht leichte Hügel hinauf und hinab, starke Steigungen sind jedoch nicht in Sicht. Plötzlich macht sich der Kakao bemerkbar, den ich nicht an jedem Tag gut vertrage… So kommt es zu meinem persönlichen Tom Dumoulin Moment, etwas das ich nicht soviel häufiger brauche. Immerhin ist niemand in der Nähe und ich kann mich „danach“ etwas sortieren. Am Parkplatz der Burg lässt mich der Torwächter mit den Worten „Vorsicht in der Abfahrt, es ist steil“ gewähren. Schon lange habe ich auf dem Höhenprofil den kleinen, aber dunkelrot eingefärbten Abschnitt entdeckt, den es nach der Kontrolle in entgegengesetzter Richtung wieder hinaufgehen soll. Froh bin ich, dass wir „nur“ bis zum Balkon mit Aussicht auf die Burg müssen, und nicht die gesamte Abfahrt ins Tal auf dem Plan steht. Dort angekommen hält die Burg, was auf den Informationstafeln groß angekündigt wird: Die Burg Eltz gilt als eine, wenn nicht sogar die schönste Burg Europas, und atmet förmlich die über 900 Jahre alte Geschichte. Ich mache einige Fotos, genieße die tolle Stimmung im Morgenlicht und denke an die nur noch zwei verbleibenden Kontrollen.

Leider habe ich vergessen, in der Abfahrt in einen kleinen Gang zu schalten, so dass ich mir bei den ersten Umdrehungen der Kurbel an der Rampe auf dem Weg Richtung Parkplatz fast einen Krampf hole. Etwas ruhiger geht es ich weiter, Rainer hat mitgeteilt dass es gut läuft und er in seinem Tempo vernünftig vorankommt. Über Münstermaifeld und das wunderbar zu fahrende Schrumpftal geht es zum zweiten Mal auf dieser Runde an die Mosel, erneut ist ein toller Ausblick über den sich träge dahinwindenden Fluss garantiert. Nach der Überquerung beginnt der vorletzte „lange“ Anstieg, den man schon von der Gegenseite aus bewundern konnte. Tolle Serpentinen ziehen sich den Berg hinauf, halb im Schatten liegend sind ein letztes Mal eindrucksvolle Blicke ins Moseltal möglich.

Leider ist der obere Teil des Anstiegs dann eine ewige Quälerei, immer geradeaus bei wenig Steigung aber Gegenwind, so dass man kaum Höhenmeter erwirtschaften kann. Zudem weicht die Ruhe nun dem Lärm der parallel laufenden A 61 für einige Kilometer und die Hitze wird immer drückender. An einer Shell-Tankstelle fülle ich ein letztes Mal die Flaschen und esse noch ein Eis, bevor es ab von der vielbefahrenen Hunsrückhöhenstraße ins Tal des Gründelbachs und unten angekommen direkt wieder in den letzten langen Anstieg hinauf Richtung Utzenhain geht. Von dort ist es nur ein Katzensprung bis zur vorletzten Kontrolle, dem Loreleyblick-Denkmal in Urbar. Dort setze ich mich erstmal für eine Weile in den Schaukelstuhl und genieße den Blick auf Rhein und den berühmten Loreleyfelsen.

Nach einiger schaffe ich es, mich aufzuraffen und den letzten Abschnitt in Angriff zu nehmen. Eigentlich ist der restliche Plan ganz einfach: Abfahrt nach St. Goar, Rheinradweg bis Boppard, und hoch zum Gedeonseck über der berühmten Rheinschleife. Als ich jedoch unten am Rhein ankomme erschlägt mich die Hitze fast. Durch die Tallage heizt es sich dort deutlich stärker auf als in den Tälern zuvor, so dass der Garmin schnell von 30° auf 33° steigt, bevor ich die Temperaturanzeige ausstelle. Das flache Rollen empfinde ich als deutlich unangenehmer, die Zeit geht schleppend vorbei und ich hoffe an jedem Schild das Boppard bald erreicht ist. Irgendwann kommt dann tatsächlich der Abzweig vom Rhein in eine Seitenstraße, und plötzlich wird es ein letztes Mal richtig steil. Zum Glück liegen die letzten 200 Höhenmeter der Tour vollständig im Schatten und es gibt nahezu kaum Autos, so dass die finalen Kilometer noch ganz gut zu ertragen sind. Oben am Restaurant ist viel los, bei dem Wetter haben unzählige Touristen den Weg zu Fuß oder mittels der Seilbahn auf sich genommen. Ich schieße das letzte Kontrollfoto, setze mich in den Schatten und atme erstmal in Ruhe durch. Eine Touristen bittet mich noch Fotos von sich zu machen, und nach zwei bis drei Verbesserungen ist sie zufrieden und erzählt, das Urlaub alleine immer ein bisschen schwierig ist. Ich lächle mitfühlend und weise auch auf die Vorteile hin.

Kontrollfoto Gedeonseck, Ziel
Rheinschleife vom Gedeonseck

Epilog

Leider hat die SR Rheingold einen kleinen Haken: Der aufmerksame Leser hat schon gemerkt, dass Start und Zielpunkt nicht auf dieselben Koordinaten hören. Bis Koblenz sind es durchs Rheintal noch 22 Kilometer, die mit viel Verkehr und der unsäglichen Hitze kaum Anziehungskraft auf mich ausüben. Irgendwann kann ich mich dann durchringen schon vorzufahren und die Rucksäcke aus dem Bahnhofsschließfach zu befreien. Wie am ersten Tag hole ich auch schon den Schlüssel der kleinen Ferienwohnung ab und checke uns ein, um dann endlich unter die kalte Dusche zu springen. Rainer kommt etwa 3 Stunden später, natürlich wie immer entspannt im Zeitlimit, und freut sich das alles schon fertig organisiert ist und er nur noch absteigen und sich aufs Sofa plumpsen lassen muss. Ich freue mich dass wir nun wieder zu Zweit sind, so gehört sich das ja eigentlich auch. Traditionell bestellen wir uns Pizza und ich fahre nochmal los, um ein paar lokale Biere für Rainer und einen Saft für mich zu kaufen. Wir essen, trinken und fachsimpeln noch ein wenig, Rainer erzählt von den Strapazen der Nacht, und wirkt dennoch erstaunlich fit. Ich bin beeindruckt von meinem 39 Jahre älteren Begleiter!

Schlussworte

Die SR Rheingold hat mir einen Riesenspaß gemacht, Felix hat da eine unfassbar gute, verkehrsarme Strecke auf die Beine gestellt. Vor allem die Kontrollspots sind durchweg landschaftliche Highlights, auf die man sich als Zwischenziel immer freuen kann. Die Versorgung war zwar nicht super einfach, aber es gibt auch keine Abschnitte auf denen man Verhungern oder Verdursten würde. Ein ordentlicher Randonneur hat sowieso immer gut im Blick wann er Proviant aufnehmen muss und wann nicht. Von der Schwierigkeit her liegt Rheingold über der Sauberland-Achterbahn, und ist schlicht nicht mit der Ötztalrundfahrt zu vergleichen, da Mittelgebirge und Hochgebirge zu verschieden sind. Ich kann die Runde jedenfalls uneingeschränkt empfehlen, egal ob mit gebuchten Übernachtungen oder einem straffen Ritt mit Blick auf eine schnelle Zielzeit.

Am Ende bleibt nur der Dank an Rainer, wieder mit mir auf die Reise gegangen zu sein. Zusammen haben wir die Herausforderungen wieder einmal unkompliziert gelöst und neben der Anstrengung auch sehr viel Spaß gehabt. Ich hoffe wir können noch die ein oder andere Tour zusammen angehen, die Liste der interessanten Herausforderungen wird nicht kürzer und die nächste Superrandonnée wartet in 2023!

Kontrollkarte: Check!

Superrandonnée Rheingold: Teil 2

Tag 2

Der zweite „Tag“ beginnt eigentlich schon mitten in der Nacht, denn pünktlich um 3 Uhr klingelt uns der Wecker aus dem weichen Bett. Nach 5 Stunden Schlaf fällt das Aufstehen zwar nicht übermäßig schwer, die Motivation zum Anziehen der benutzten Radklamotten und dem Packen des Rads lässt dennoch zu wünschen übrig. Irgendwann schaffen wir es dann irgendwie aufs Rad, verlassen die hübsche, warme Geborgenheit des Hotels und rollen in die dunkle Nacht hinaus, nur um 2 Kilometer später an der Abends ausgesuchten Tankstelle zum Frühstücken anzuhalten. Der Verkäufer am Nachtschalter ist zwar etwas verwundert, bringt dann aber mit Bravour alle gewünschten Snacks und Getränke, die uns auf den nächsten 100 Kilometern durch das dritte Mittelgebirge, den Hunsrück, versorgen sollen. In der Streckenbeschreibung sind die nächsten 100 Kilometer bis Thalfang so etwas wie Wüste, in der es außer einem einzigen Bäcker nichts an Verpflegung gibt. Nachdem alles in den Taschen verstaut ist und Rainer seinen Kaffee ausgetrunken hat machen wir uns auf den Weg. Bis zur ersten Kontrolle des Tages sind nur 10 Kilometer, allerdings auch etwa 600 Höhenmeter zu bezwingen. Durch die dunkle Stille geht es direkt steil aus Bingen heraus, um dann etwas weiter oben auf angenehmere Steigungsprozente abzuflachen. Die nächsten Kilometer kämpfen wir, jeder für sich, Meter um Meter den Berg hinauf. Am Anfang sieht man noch ab und an die Lichter unten am Rhein, bevor in der Stille des Waldes die Geräusche des Rades, die eigene Atmung und die Dunkelheit zu einem Ganzen verschwimmen. Es kommt mir vor als wären Stunden vergangen, als ich endlich an der Lauschhütte ankomme und der Anstieg sein Ende findet. Kurz denke ich, jetzt ein wenig Zeit zum Ausruhen zu haben, als Rainer auch schon um die Ecke gebogen kommt. Die Kühle am Morgen zusammen mit der entspannten Nacht haben ihm gut getan, die Kraft ist wieder da. Also machen wir nur schnell Kontrollfotos, ich stelle fest das ich das obligatorische Rahmenschild im Hotel verloren habe, und stürzen uns in die Abfahrt.

Durch den dunklen Wald zittern wir uns die gerade erst erarbeiteten Höhenmeter wieder hinunter. Sowieso ist das eine der anstrengenden Seiten einer Superrandonnée: Jeder Hügel den man sich hinaufkämpft wird innerhalb von Minuten mit der nächsten Abfahrt egalisiert, bevor alles wieder von vorn beginnt. Mitten in der Abfahrt entscheidet sich Rainer, doch seine Regen/Windjacke anzuziehen, um nicht völlig erfroren unten anzukommen. Ich rolle weiter und überfahre auf den letzten abschüssigen Metern fast noch einen todesmutigen Hasen, der sich mir im Scheinwerferlicht entgegenwirft. Unter der hell erleuchteten A 61 hindurch geht es direkt in den Gegenanstieg über Daxweiler zum berühmten Bäcker nach Seibersbach, der erst um 6 Uhr öffnen soll. Als wir um 5.30 Uhr vorbeifahren steht die Tür allerdings schon weit offen und frischer Backgeruch kommt uns entgegen, so dass wir uns frech hineinmogeln und der wirklich netten Bäckersfrau ein paar süße Teilchen zum Frühstück abschwatzen können. Sie kennt die Randonneure scheinbar schon, freut sich jemanden zum Erzählen zu haben und lässt uns dann für 10 Minuten allein im Gastraum sitzen, um ihre gesetzliche Pause vor dem offiziellen Geschäftsbeginn zu vollziehen. Frisch gestärkt und mit einer ordentlichen Portion Glaube an das Gute im Menschen geht es entspannt durch den sich anbahnenden Sonnenaufgang durch die verlassenen Straßen des Hunsrücks.

Sonnenaufgang im Hunsrück

An einer Baustelle fehlt die Brücke, die Bauarbeiter winken uns über eine wenig vertrauenserweckend aussehende Umleitung, auf der wir das Rad schultern und uns einen Abhang hinunter und auf der anderen Seite wieder hinaufkämpfen müssen. Kurz vor der nächsten Kontrolle am höchsten Berg westlich des Rheins, dem Erbeskopf, trennen sich Rainer und ich erneut, damit jeder in seinem Tempo den Aufstieg bewältigen kann. Trotz der frühen Tageszeit wird es schon wieder ordentlich heiß, so dass wir hinter der Kontrolle auf jeden Fall eine Pause einplanen müssen. Oben am Erbeskopf ist es wunderbar ruhig, nur zwei weitere Paare sind außer mir vor Ort. Ich rolle bis zur Skulptur Windklang, dem Wahrzeichen des Erbeskopfes, und mache mein Kontrollfoto. Die Touristen sind aus Belgien und wir tauschen uns etwas über Urlaub und die Gegend aus. Zwei Tage zuvor sind die Beiden auf den Erbeskopf gewandert, bei 10 Grad und Regen sowie null Sicht. Heute hingegen können wir unzählige Kilometer weit über die Landschaft schauen.

Nach einiger Zeit kommt Rainer angerollt, und nachdem auch er die Fotos im Sack hat und ein bisschen den Blick genießen konnte geht es in die lange Abfahrt nach Thalfang hinab. Dort erblicken wir direkt am Ortseingangsschild die Shell-Tankstelle, und biegen ab. Es gibt Eis, kalte Getränke und ein bisschen was zur Stärkung, bevor wir uns in der drückenden Hitze auf den Weg zur Mosel machen. Bis dahin ist es laut Streckenbeschreibung „nur“ ein kleiner Höhenzug, der sich aber eine ganze Weile zieht. Oben angekommen bietet sich uns jedoch ein tolles Panorama. Wie die Mosel sich durch die flachen Weinberge zieht, dazu der strahlend blaue Himmel und die Sonne… Wir müssen einfach für einige zusätzliche Fotos anhalten.

Die Mosel im Tal der großen Dhron

Nachdem wir die Mosel überquert haben und ins Tal der kleinen Dhron abbiegen macht sich jedoch immer mehr bemerkbar, dass Rainer sehr unter der Hitze leidet und ich heute einfach ein bisschen zu ungeduldig, eventuell die Beine auch ein bisschen zu gut sind. Und so schlage ich etwas selbstsüchtig vor, Rainer alleine zu lassen, damit er in seinem Tempo und mit seinen Pausen, und ich in meinem Rhythmus voraus fahren kann. Er hat nicht großartig etwas einzuwenden und ist sowieso ein sehr lieber Mitfahrer, der sich auch den Unmut nicht unbedingt anmerken lassen würde. So kommt es, dass wir uns zum ersten Mal auf einer Superrandonnée für längere Zeit trennen und ich nicht am nächsten längeren Anstieg warte. Das Tal ist außerordentlich schön, immer wieder geht es links, rechts, und leider auch immer wieder kleine steile Hügel hinauf. Seit der Moselüberquerung befinden wir uns nun schon in der Eifel, und langsam werden die typischen Anzeichen immer dichter. So richtig bewusst wird einem das an der nächsten Kontrolle, dem Meerfelder Maar. Dieses inmitten des größten Maartrichters der Eifel befindliche Naturschauspiel zeigt eindrucksvoll die vulkanische Vergangenheit der Gegend. Das Maar an sich ist über 30.000 Jahre alt und bietet im Sommer sogar die Möglichkeit, im örtlichen Naturbad ein Bad in einem erloschenen Vulkan zu nehmen. Das Kontrollfoto schieße ich an der Skulptur „Urknall“, die sich direkt hinter dem Ortsausgang von Meerfeld verbirgt, und einen hübschen Blick auf das Naturschutzgebiet freigibt.

Kontrolle Meerfelder Maar, Skulptur Urknall

Da in Meerfeld kein Supermarkt an der Strecke liegt und die Hotels auf mich alle einen etwas zu feinen Eindruck machen, fahre ich weiter. Das nächste Ziel ist Gerolstein, dort soll es Tankstellen und alles Weitere geben. Der Weg führt entlang des Kosmosradwegs einige Kilometer entlang der kleinen Kyell, bevor man in Neroth noch einmal von der Hauptstraße auf einen kurzen, steilen Anstieg direkt vor Gerolstein geschickt wird. Die folgende Abfahrt ist zum Genießen, so dass ich relativ entspannt Gerolstein erreiche und dort direkt die Aral-Tankstelle aufsuche. Zwei Stieleis, Cola und kaltes Wasser später entscheide ich möglichst zügig weiterzufahren, um der großen Stadt und dem vielen Lärm schnell wieder zu entgehen. Die bisher meist abgeschiedenen Strecken tragen noch dazu bei, das ich den plötzlichen Straßenlärm im Zusammenspiel mit der Hitze schlechter verkrafte als sonst. Die nächste Kontrolle ist nur wenige Kilometer weiter, in Auel soll die Statue des Nepomuk auf einer Brücke fotografiert werden. Auch sind an dieser Stelle etwas über 400 Kilometer bereits vorbei und somit zwei Drittel der Strecke geschafft.

Kontrolle Auel, Statue Nepomuk

Da es gerade gut läuft und es bis zur nächsten Kontrolle wiederum nur 24 Kilometer sind, mache ich mich auf den Weg, um möglichst viele Kilometer an diesem Tag hinter mich zu bringen. Tags zuvor hatten Rainer und ich noch geplant, bis ungefähr Kilometer 450 zu kommen, um dort wieder ein paar Stunden auszuruhen und etwas Schlaf zu bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt glaube ich, das unser Plan auch aufgehen wird. Bis zur Kontrolle in Lommersdorf folgt ein harter Abschnitt, der durch den aus nördlichen Richtungen wehenden Wind noch verschärft wird. Hügel auf Hügel geht es durch die Felder, längere gleichmäßige Stücke gibt es so gut wie keine mehr. Auch der sonst bestimmt eindrucksvolle Blick auf die Kegelberge der nördlichen Vulkaneifel lassen nur wenig Hochstimmung aufkommen, ich bin froh dass ich mit jedem Tritt etwas weiter vorwärts komme. Am Kontrollpunkt in Lommersdorf kontaktiere ich Rainer, um abzusprechen wie wir weiter vorgehen, ob ich eine Unterkunft in einigen Kilometern Entfernung für uns buchen soll und wie es ihm geht. Leider stellt sich heraus, dass er durch die Hitze doch deutlich mehr Zeit gebraucht hat und immer wieder Pausen einlegen muss, damit der Kreislauf nicht zusammenbricht. Bis Kilometer 450 ist es für ihn utopisch, er will lieber früher eine Unterkunft finden und dann mitten in der Nacht auf den letzten Teil der Reise starten. Da ich jetzt schon einige Kilometer weiter bin ist also klar, dass ich mir selbst eine Unterkunft nur für mich suchen muss. Bei Booking sieht die Aussicht allerdings äußerst ernüchternd aus: Auf dem Abschnitt hinter der nächsten Kontrolle steht das Ahrtal auf dem Programm, dass deutschlandweit durch die Verwüstungen im letzten Jahr bekannt ist. Ich telefoniere mich durch dutzende Pensionen und Hotels, die entweder noch nicht wieder auf oder vollständig ausgebucht sind. Alle klagen über die fehlenden Kapazitäten und können mir nicht weiterhelfen. Verzweifelt fahre ich erst einmal weiter, mit der Aussicht eventuell die Nacht keinen Schlafplatz zu finden und ohne die richtigen Klamotten durchfahren zu müssen. So kommt es, dass ich die meist erwartete Kontrolle, das Radioteleskop Effelsberg (eines der beiden größten, vollbeweglichen Radioteleskopen auf diesem Planeten!), kaum genießen kann. Ein schnelles Foto im Sonnenuntergang, und direkt wieder am Handy und die Internetsuche auf.

Kontrolle Lommersdorf
Kontrolle Radioteleskop Effelsberg

Schließlich, 16 Kilometer ab vom Track, finde ich eine Unterkunft, die explizit Gäste mit ihrer Nähe zum Nürburgring anspricht. Ich rufe kurz an, frage ob ich 22 Uhr und mit dem Rad noch ankommen darf, erhalte ein wenig überzeugendes „Ja!“, und fahre drauf los. Bis Ahrbrück geht es auf und ab mit der Sonne im Rücken und kaum Verkehr, die Aussicht auf meine Unterkunft gibt noch einmal neue Kraft. Im Ahrtal zeigt sich dann das ganze Ausmaß der schrecklichen Flutkatastrophe: Viele Häuser stehen leer, sind entkernt oder werden gerade wieder aufgebaut, die Radinfrastruktur, welche Komoot mir vorschlägt um nach Adenau zu gelangen, existiert einfach nicht mehr. Statt dem Track zu folgen biege ich nun ins Ahrtal ab, um die Unterkunft 16 Kilometer flussaufwärts zu erreichen. Fluss ist dabei jedoch eine völlige Übertreibung, die Ahr ist nicht mehr als ein Rinnsal, das die verbliebenen Menschen hämisch auszulachen scheint. Auf der Schnellstraße sind viele Pickups und Baufahrzeuge unterwegs, teilweise ist auch die rechte Spur nicht mehr vorhanden, alles weggespült von den Wassermassen. Ich beeile mich und bin kurz vor 22 Uhr an meiner Unterkunft und bekomme nach kurzem Telefonat des Türcode, alles klappt super. Das Geld soll ich einfach auf dem Tisch im Zimmer lassen. Viel Spaß und Gute Nacht gewünscht, und schon bin ich in einem herrlichen Zimmer und kann endlich etwas runterfahren. Schnell duschen, alle Geräte an den Strom, kurz mit Rainer ausgetauscht, der ebenfalls für ein paar Stunden eine Unterkunft gefunden hat, und dann schlafen. Der Wecker steht auf 4 Uhr, etwas mehr Erholungszeit als gestern ist nach den heutigen 276 Kilometern und etwa 5000 Höhenmetern drin, ich hoffe das Rainer mich bis dahin eingeholt hat. Noch kurz die Zwischenzeiten in England gecheckt, Carola fährt bei L-E-L hervorragend vor sich hin, und schon schlafe ich mit dem Handy in der Hand ein.