Tag 2

Der zweite „Tag“ beginnt eigentlich schon mitten in der Nacht, denn pünktlich um 3 Uhr klingelt uns der Wecker aus dem weichen Bett. Nach 5 Stunden Schlaf fällt das Aufstehen zwar nicht übermäßig schwer, die Motivation zum Anziehen der benutzten Radklamotten und dem Packen des Rads lässt dennoch zu wünschen übrig. Irgendwann schaffen wir es dann irgendwie aufs Rad, verlassen die hübsche, warme Geborgenheit des Hotels und rollen in die dunkle Nacht hinaus, nur um 2 Kilometer später an der Abends ausgesuchten Tankstelle zum Frühstücken anzuhalten. Der Verkäufer am Nachtschalter ist zwar etwas verwundert, bringt dann aber mit Bravour alle gewünschten Snacks und Getränke, die uns auf den nächsten 100 Kilometern durch das dritte Mittelgebirge, den Hunsrück, versorgen sollen. In der Streckenbeschreibung sind die nächsten 100 Kilometer bis Thalfang so etwas wie Wüste, in der es außer einem einzigen Bäcker nichts an Verpflegung gibt. Nachdem alles in den Taschen verstaut ist und Rainer seinen Kaffee ausgetrunken hat machen wir uns auf den Weg. Bis zur ersten Kontrolle des Tages sind nur 10 Kilometer, allerdings auch etwa 600 Höhenmeter zu bezwingen. Durch die dunkle Stille geht es direkt steil aus Bingen heraus, um dann etwas weiter oben auf angenehmere Steigungsprozente abzuflachen. Die nächsten Kilometer kämpfen wir, jeder für sich, Meter um Meter den Berg hinauf. Am Anfang sieht man noch ab und an die Lichter unten am Rhein, bevor in der Stille des Waldes die Geräusche des Rades, die eigene Atmung und die Dunkelheit zu einem Ganzen verschwimmen. Es kommt mir vor als wären Stunden vergangen, als ich endlich an der Lauschhütte ankomme und der Anstieg sein Ende findet. Kurz denke ich, jetzt ein wenig Zeit zum Ausruhen zu haben, als Rainer auch schon um die Ecke gebogen kommt. Die Kühle am Morgen zusammen mit der entspannten Nacht haben ihm gut getan, die Kraft ist wieder da. Also machen wir nur schnell Kontrollfotos, ich stelle fest das ich das obligatorische Rahmenschild im Hotel verloren habe, und stürzen uns in die Abfahrt.

Durch den dunklen Wald zittern wir uns die gerade erst erarbeiteten Höhenmeter wieder hinunter. Sowieso ist das eine der anstrengenden Seiten einer Superrandonnée: Jeder Hügel den man sich hinaufkämpft wird innerhalb von Minuten mit der nächsten Abfahrt egalisiert, bevor alles wieder von vorn beginnt. Mitten in der Abfahrt entscheidet sich Rainer, doch seine Regen/Windjacke anzuziehen, um nicht völlig erfroren unten anzukommen. Ich rolle weiter und überfahre auf den letzten abschüssigen Metern fast noch einen todesmutigen Hasen, der sich mir im Scheinwerferlicht entgegenwirft. Unter der hell erleuchteten A 61 hindurch geht es direkt in den Gegenanstieg über Daxweiler zum berühmten Bäcker nach Seibersbach, der erst um 6 Uhr öffnen soll. Als wir um 5.30 Uhr vorbeifahren steht die Tür allerdings schon weit offen und frischer Backgeruch kommt uns entgegen, so dass wir uns frech hineinmogeln und der wirklich netten Bäckersfrau ein paar süße Teilchen zum Frühstück abschwatzen können. Sie kennt die Randonneure scheinbar schon, freut sich jemanden zum Erzählen zu haben und lässt uns dann für 10 Minuten allein im Gastraum sitzen, um ihre gesetzliche Pause vor dem offiziellen Geschäftsbeginn zu vollziehen. Frisch gestärkt und mit einer ordentlichen Portion Glaube an das Gute im Menschen geht es entspannt durch den sich anbahnenden Sonnenaufgang durch die verlassenen Straßen des Hunsrücks.

Sonnenaufgang im Hunsrück

An einer Baustelle fehlt die Brücke, die Bauarbeiter winken uns über eine wenig vertrauenserweckend aussehende Umleitung, auf der wir das Rad schultern und uns einen Abhang hinunter und auf der anderen Seite wieder hinaufkämpfen müssen. Kurz vor der nächsten Kontrolle am höchsten Berg westlich des Rheins, dem Erbeskopf, trennen sich Rainer und ich erneut, damit jeder in seinem Tempo den Aufstieg bewältigen kann. Trotz der frühen Tageszeit wird es schon wieder ordentlich heiß, so dass wir hinter der Kontrolle auf jeden Fall eine Pause einplanen müssen. Oben am Erbeskopf ist es wunderbar ruhig, nur zwei weitere Paare sind außer mir vor Ort. Ich rolle bis zur Skulptur Windklang, dem Wahrzeichen des Erbeskopfes, und mache mein Kontrollfoto. Die Touristen sind aus Belgien und wir tauschen uns etwas über Urlaub und die Gegend aus. Zwei Tage zuvor sind die Beiden auf den Erbeskopf gewandert, bei 10 Grad und Regen sowie null Sicht. Heute hingegen können wir unzählige Kilometer weit über die Landschaft schauen.

Nach einiger Zeit kommt Rainer angerollt, und nachdem auch er die Fotos im Sack hat und ein bisschen den Blick genießen konnte geht es in die lange Abfahrt nach Thalfang hinab. Dort erblicken wir direkt am Ortseingangsschild die Shell-Tankstelle, und biegen ab. Es gibt Eis, kalte Getränke und ein bisschen was zur Stärkung, bevor wir uns in der drückenden Hitze auf den Weg zur Mosel machen. Bis dahin ist es laut Streckenbeschreibung „nur“ ein kleiner Höhenzug, der sich aber eine ganze Weile zieht. Oben angekommen bietet sich uns jedoch ein tolles Panorama. Wie die Mosel sich durch die flachen Weinberge zieht, dazu der strahlend blaue Himmel und die Sonne… Wir müssen einfach für einige zusätzliche Fotos anhalten.

Die Mosel im Tal der großen Dhron

Nachdem wir die Mosel überquert haben und ins Tal der kleinen Dhron abbiegen macht sich jedoch immer mehr bemerkbar, dass Rainer sehr unter der Hitze leidet und ich heute einfach ein bisschen zu ungeduldig, eventuell die Beine auch ein bisschen zu gut sind. Und so schlage ich etwas selbstsüchtig vor, Rainer alleine zu lassen, damit er in seinem Tempo und mit seinen Pausen, und ich in meinem Rhythmus voraus fahren kann. Er hat nicht großartig etwas einzuwenden und ist sowieso ein sehr lieber Mitfahrer, der sich auch den Unmut nicht unbedingt anmerken lassen würde. So kommt es, dass wir uns zum ersten Mal auf einer Superrandonnée für längere Zeit trennen und ich nicht am nächsten längeren Anstieg warte. Das Tal ist außerordentlich schön, immer wieder geht es links, rechts, und leider auch immer wieder kleine steile Hügel hinauf. Seit der Moselüberquerung befinden wir uns nun schon in der Eifel, und langsam werden die typischen Anzeichen immer dichter. So richtig bewusst wird einem das an der nächsten Kontrolle, dem Meerfelder Maar. Dieses inmitten des größten Maartrichters der Eifel befindliche Naturschauspiel zeigt eindrucksvoll die vulkanische Vergangenheit der Gegend. Das Maar an sich ist über 30.000 Jahre alt und bietet im Sommer sogar die Möglichkeit, im örtlichen Naturbad ein Bad in einem erloschenen Vulkan zu nehmen. Das Kontrollfoto schieße ich an der Skulptur „Urknall“, die sich direkt hinter dem Ortsausgang von Meerfeld verbirgt, und einen hübschen Blick auf das Naturschutzgebiet freigibt.

Kontrolle Meerfelder Maar, Skulptur Urknall

Da in Meerfeld kein Supermarkt an der Strecke liegt und die Hotels auf mich alle einen etwas zu feinen Eindruck machen, fahre ich weiter. Das nächste Ziel ist Gerolstein, dort soll es Tankstellen und alles Weitere geben. Der Weg führt entlang des Kosmosradwegs einige Kilometer entlang der kleinen Kyell, bevor man in Neroth noch einmal von der Hauptstraße auf einen kurzen, steilen Anstieg direkt vor Gerolstein geschickt wird. Die folgende Abfahrt ist zum Genießen, so dass ich relativ entspannt Gerolstein erreiche und dort direkt die Aral-Tankstelle aufsuche. Zwei Stieleis, Cola und kaltes Wasser später entscheide ich möglichst zügig weiterzufahren, um der großen Stadt und dem vielen Lärm schnell wieder zu entgehen. Die bisher meist abgeschiedenen Strecken tragen noch dazu bei, das ich den plötzlichen Straßenlärm im Zusammenspiel mit der Hitze schlechter verkrafte als sonst. Die nächste Kontrolle ist nur wenige Kilometer weiter, in Auel soll die Statue des Nepomuk auf einer Brücke fotografiert werden. Auch sind an dieser Stelle etwas über 400 Kilometer bereits vorbei und somit zwei Drittel der Strecke geschafft.

Kontrolle Auel, Statue Nepomuk

Da es gerade gut läuft und es bis zur nächsten Kontrolle wiederum nur 24 Kilometer sind, mache ich mich auf den Weg, um möglichst viele Kilometer an diesem Tag hinter mich zu bringen. Tags zuvor hatten Rainer und ich noch geplant, bis ungefähr Kilometer 450 zu kommen, um dort wieder ein paar Stunden auszuruhen und etwas Schlaf zu bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt glaube ich, das unser Plan auch aufgehen wird. Bis zur Kontrolle in Lommersdorf folgt ein harter Abschnitt, der durch den aus nördlichen Richtungen wehenden Wind noch verschärft wird. Hügel auf Hügel geht es durch die Felder, längere gleichmäßige Stücke gibt es so gut wie keine mehr. Auch der sonst bestimmt eindrucksvolle Blick auf die Kegelberge der nördlichen Vulkaneifel lassen nur wenig Hochstimmung aufkommen, ich bin froh dass ich mit jedem Tritt etwas weiter vorwärts komme. Am Kontrollpunkt in Lommersdorf kontaktiere ich Rainer, um abzusprechen wie wir weiter vorgehen, ob ich eine Unterkunft in einigen Kilometern Entfernung für uns buchen soll und wie es ihm geht. Leider stellt sich heraus, dass er durch die Hitze doch deutlich mehr Zeit gebraucht hat und immer wieder Pausen einlegen muss, damit der Kreislauf nicht zusammenbricht. Bis Kilometer 450 ist es für ihn utopisch, er will lieber früher eine Unterkunft finden und dann mitten in der Nacht auf den letzten Teil der Reise starten. Da ich jetzt schon einige Kilometer weiter bin ist also klar, dass ich mir selbst eine Unterkunft nur für mich suchen muss. Bei Booking sieht die Aussicht allerdings äußerst ernüchternd aus: Auf dem Abschnitt hinter der nächsten Kontrolle steht das Ahrtal auf dem Programm, dass deutschlandweit durch die Verwüstungen im letzten Jahr bekannt ist. Ich telefoniere mich durch dutzende Pensionen und Hotels, die entweder noch nicht wieder auf oder vollständig ausgebucht sind. Alle klagen über die fehlenden Kapazitäten und können mir nicht weiterhelfen. Verzweifelt fahre ich erst einmal weiter, mit der Aussicht eventuell die Nacht keinen Schlafplatz zu finden und ohne die richtigen Klamotten durchfahren zu müssen. So kommt es, dass ich die meist erwartete Kontrolle, das Radioteleskop Effelsberg (eines der beiden größten, vollbeweglichen Radioteleskopen auf diesem Planeten!), kaum genießen kann. Ein schnelles Foto im Sonnenuntergang, und direkt wieder am Handy und die Internetsuche auf.

Kontrolle Lommersdorf
Kontrolle Radioteleskop Effelsberg

Schließlich, 16 Kilometer ab vom Track, finde ich eine Unterkunft, die explizit Gäste mit ihrer Nähe zum Nürburgring anspricht. Ich rufe kurz an, frage ob ich 22 Uhr und mit dem Rad noch ankommen darf, erhalte ein wenig überzeugendes „Ja!“, und fahre drauf los. Bis Ahrbrück geht es auf und ab mit der Sonne im Rücken und kaum Verkehr, die Aussicht auf meine Unterkunft gibt noch einmal neue Kraft. Im Ahrtal zeigt sich dann das ganze Ausmaß der schrecklichen Flutkatastrophe: Viele Häuser stehen leer, sind entkernt oder werden gerade wieder aufgebaut, die Radinfrastruktur, welche Komoot mir vorschlägt um nach Adenau zu gelangen, existiert einfach nicht mehr. Statt dem Track zu folgen biege ich nun ins Ahrtal ab, um die Unterkunft 16 Kilometer flussaufwärts zu erreichen. Fluss ist dabei jedoch eine völlige Übertreibung, die Ahr ist nicht mehr als ein Rinnsal, das die verbliebenen Menschen hämisch auszulachen scheint. Auf der Schnellstraße sind viele Pickups und Baufahrzeuge unterwegs, teilweise ist auch die rechte Spur nicht mehr vorhanden, alles weggespült von den Wassermassen. Ich beeile mich und bin kurz vor 22 Uhr an meiner Unterkunft und bekomme nach kurzem Telefonat des Türcode, alles klappt super. Das Geld soll ich einfach auf dem Tisch im Zimmer lassen. Viel Spaß und Gute Nacht gewünscht, und schon bin ich in einem herrlichen Zimmer und kann endlich etwas runterfahren. Schnell duschen, alle Geräte an den Strom, kurz mit Rainer ausgetauscht, der ebenfalls für ein paar Stunden eine Unterkunft gefunden hat, und dann schlafen. Der Wecker steht auf 4 Uhr, etwas mehr Erholungszeit als gestern ist nach den heutigen 276 Kilometern und etwa 5000 Höhenmetern drin, ich hoffe das Rainer mich bis dahin eingeholt hat. Noch kurz die Zwischenzeiten in England gecheckt, Carola fährt bei L-E-L hervorragend vor sich hin, und schon schlafe ich mit dem Handy in der Hand ein.