Am Pfingstwochenende auf den Spuren von Rübezahl von Heidenau ins Riesengebirge und durchs Isergebirge über den Jeschken wieder zurück.
Der einzige Wermutstropfen dabei, die Strecken werden alles andere, aber nicht flach. Mal abgesehen vom Westen und Norden, ist das einzige Flachstück in der Nähe das Elbtal. Auch nach dem böhmischen Mittelgebirge in Richtung Prag bzw. im Nordosten von Prag ist es relativ flach. Nur muss man auf dem Weg dahin und zurück über die Berge. Kurzum, 1500hm auf 100km werden eher das Minimum als das Maximum darstellen. Mir ist bewusst, dass dies nicht das Profil von PBP abbildet. Damit keiner von den Strecken überrascht wird, werde ich alle Strecken mit Karte und Höhenprofil vorstellen. So kann jeder für sich selbst vor der Anmeldung entscheiden, ob er sich dieser „Prüfung“ stellen möchte.
Björn Lenhardt, Startseite ARA Dresden
Wie die Zeit doch rennt: Seit 2018 habe ich jedes Jahr die komplette Brevetserie (200, 300, 400 und 600 Kilometer) gefahren. also mindestens einen 600er pro Jahr, in einigen Jahren sogar zwei dieser verrückten Touren. Für dieses Jahr war aufgrund der geplanten „langen“ Sommertour eigentlich kein Platz dafür vorgesehen, was aufgrund einer leichten Brevet-Übersättigung der letzten Jahre auch gar nicht so schlimm gewesen wäre. Auch ist die gesamte Planung in diesem Jahr eher spontan ausgefallen, und genau das führt auch zur Teilnahme an diesem Brevet: Vor zwei Wochen fällt mir auf, dass der Mai viele Feiertage hat, aber der Kalender bis auf ein Wochenende ziemlich leer aussieht. Kann das so sein? Also nochmal genauer hingeschaut: Da ist doch noch das Pfingstwochenende, also drei Tage frei, am Stück? Was könnte man denn da Schönes machen?
Ich recherchiere mich durch diverse Bikepacking- und Eventkalender, überlege mir verschiedene Anreisemöglichkeiten in tolle Raddestinationen, ohne dass es zu viel Geld kosten darf. Und da kommen dann doch wieder die Brevets ins Blickfeld: Geringe Startgebühren, bekannter Modus. Nur, welche finden denn statt, und wird dieses Jahr vielleicht doch wieder eine komplette Serie draus (ich mag Serien sehr gern, auch wenn ich nicht wirklich verbissen hinterher bin)? Schnell wird klar, die Randonneure fahren nicht wirklich gern an Pfingsten, laut Brevetkalender stehen nur drei zur Wahl, und davon ist nur eins mit den verfügbaren Mitteln gut zu erreichen: Am Startort von ARA Dresden an der Radrennbahn in Heidenau wird am 18.05.2024 zum 600er aufgerufen. Ein Blick auf die Details der von Björn ausgedachten Strecke lässt mich schlucken: 607 Kilometer (immerhin keine Überlänge), und dabei sind um die 10.500 Höhenmeter zu absolvieren. Aufmerksame Leser kennen diese Eckpunkte schon von anderen Touren, es handelt sich um die Anforderungen einer Superrandonnée, für die man normalerweise 60 Stunden Zeit hat. Im Rahmen der Brevetserie sind hingegen „nur“ 40 Stunden vorgesehen, was dann doch einiges an zeitlichem Stress bedeutet. Ohne noch länger nachzudenken fülle ich das Anmeldeformular au und bereue es schon wenige Minuten später. So viele Höhenmeter auf einen Schlag bin ich seit meiner Freiberger Zeit nicht mehr gefahren, aber früher mochte ich jeden Meter aufwärts gern. Inzwischen werden es jedes Jahr weniger Höhenmeter, Berge sieht man hier im Norden eher selten, und viele Radurlaube im Bergigen gab es auch nicht.

In den folgenden Wochen bis zum Start mache ich mir zur Vorbereitung größtenteils eins: Sorgen. Auf Quäldich wird jeder „klassifizierte“ Anstieg vielfach analysiert, die Pausen- und vor allem Schlafoptionen durchgegangen und überlegt, welche Geschwindigkeit bei diesem Profil wohl möglich ist. Auch was man mitnehmen sollte ist mir nicht ganz klar, nur das es weniger sein muss als auf den letzten Touren, um überhaupt eine Chance zu haben. Die einzige Beruhigung verschafft mir der Gedanke, dass Pfingstmontag frei ist und ich auch einfach einen Tag länger fahren kann, also keinen äußeren Zeitdruck verspüre. Letztendlich kommt das Pfingstwochenende immer näher und die Vorfreude auf die Strecke steigt an, trotz der Zeit im Erzgebirge war ich noch nie soweit im Osten Tschechiens, und weder im Riesengebirge noch im Isergebirge. Die Anreise gestaltet sich dann schwieriger als gedacht: Ich stehe mit dem Auto mehr als 3 Stunden bei einer Vollsperrung auf der A9, und telefoniere sogar schon mit Maik und meinen Eltern, sage das ich umdrehen will und das Wochenende gelaufen ist, die Nerven liegen schon da blank. Irgendwann löst sich der Stau auf und ich fahre weiter nach Sachsen, umdrehen geht auch morgen früh noch. Um kurz nach 21 Uhr bin ich endlich in Heidenau, Björn und ein paar weitere Fahrer sitzen noch da und warten, einige haben schon ihre Schlafplätze in der Turnhalle aufgebaut. Mein Plan vom frühen Schlafengehen ist hinfällig, mit Quatschen, Aufbau und Essen (Danke nochmal an Michael aus Darmstadt fürs Nudeln kochen!) ist es schneller 23 Uhr als gedacht, aber immerhin können wir ausschlafen. Um kurz nach 6 werde ich schließlich wach, und kann auch nicht mehr richtig einschlafen. Also aufstehen, es wird schon Frühstück serviert und die restlichen Fahrer und Fahrerinnen trudeln ein, insgesamt sind um die 27 Personen gemeldet. Schön auch das einige bekannte Gesichter dabei sind, Mathias aus Halle, Tobias aus Berlin, mehrere Randonneure die ich schon in Bennewitz früher gesehen habe. Auch schön das so viele Frauen dabei sind, vom Verhältnis nahezu mehr als in den Großstädten Berlin und Hamburg. Und auch auffällig: Das Durchschnittsalter ist viel niedriger als bei meinen üblichen Startorten, ein Indiz für die Strapazen die uns in den nächsten 40 Stunden erwarten oder für die moderne Brevetszene Dresdens?
Um 8 Uhr stehen alle Teilnehmenden draußen, die Bilder sind gemacht und in der virtuellen Brevetkarte hochgeladen, so richtig losfahren scheint jedoch niemand zu wollen. Nach und nach rollen wir dann doch als kleine Gruppe vom Hof des SSV Heidenau auf die ersten, flachen Kilometer durch Heidenau Richtung Erzgebirgskamm.

Die ersten Kilometer fliegen im Windschatten der schnelleren Jungs und Mädels zügig vorbei, und schon kurz hinterm Ortsausgang teilt sich die Gruppe in die schnellen und die gemütlicheren Fahrer ein. Einige versuchen aus unserer Gruppe noch den Schnellen hinterherzuspringen, es ist Wahnsinn wie die losziehen, mit deutlich über 30km/h bei leichter Steigung. Die erste Kontrolle ist schon bei Kilometer 27 angesetzt, allerdings sind dann auch schon 490 Höhenmeter geschafft, was dem HM/KM Verhältnis sehr gut entspricht. Die Steigung durchs Gottleuba- und Billatal ist angenehm, und wir rollen sehr entspannt bergan. An den ersten steileren Abschnitten spaltet sich dann auch unsere Gruppe so langsam auf, und vor allem am Berg fühlen sich meine Beine ganz gut an. Obwohl ich relativ viel aussortiert habe bin ich mit Luftmatratze, Biwaksack, kompletter Regenmontur, langen Ersatzklamotten und einer Menge Essen ganz gut beladen, aber noch stört dass nicht sonderlich. Kurz vor der Kontrolle an den Zollhäusern fängt es langsam an zu nieseln, berghoch natürlich nicht schlimm, es ist warm genug und in den Regenklamotten würde man auch nur schwitzen. Oben dann die Regenüberzieher und die Regenjacke an und ab nach Tschechien, die Grenze erreicht man über ein kurzes Gravelstück auf deutscher Seite, ab dort wird der Weg zu einem fantastischen Radweg in Tschechien. In der Abfahrt Richtung Decin wird der Regen immer mehr, und ich lasse den Abstand zu den vier Fahrern vor mir größer werden, um nicht vollkommen durchgeweicht unten anzukommen und die Kurven in meiner eigenen Linie nehmen zu können. In Decin sind die Schuhe trotzdem durchgeweicht und die Hände ziemlich steif, allerdings nimmt der Regen wieder etwas ab und die 20 Grad im Tal wärmen uns durch. Jetzt beginnt der 110 Kilometer lange Abschnitt südlich des Iser- und Riesengebirges Richtung CP 2, wobei keine langen Anstiege eingeplant sind. Meistens geht es um die 20 Minuten bergauf bei mittleren Steigungen, es regnet mal mehr mal weniger, trocken ist es in den ersten vier Stunden nahezu gar nicht. Der Niesel macht mir nicht wirklich viel aus, es ist warm genug um im Anstieg ins Schwitzen zu kommen und in den Abfahrten nicht zu sehr zu frieren. Pausen mache ich wie geplant nahezu keine, lieber immer entspannt fahren als anhalten und Zeit verlieren. Zwischenzeitlich verliere ich die anderen aus den Augen, dann kommen sie wieder von hinten, und bis zur zweiten Kontrolle bei KM 137 bin ich nie wirklich alleine. Die Strecke glänzt durch überwiegend keinen Verkehr und verschiedenste Straßenbeläge, tolle neue Asphaltstrecken wechseln sich mit üblen Schlaglochpisten ab, die schlimmsten sollen allerdings erst noch kommen.






Nach der Kontrolle kommt der harte Abschnitt zum CP3, hoch auf 1125 Meter, zur Pražská bouda im Riesengebirge, dem für mich härtesten Anstieg der ganzen Tour. Auf dem Weg dorthin mache ich einmal kurz Pause um Getränke und den Vorrat an Gummibärchen aufzufüllen, die Einzige auf den ersten 280 Kilometern abseits der Kontrollpunkte. Das Wetter wird langsam besser, die Sonne scheint ab und zu, die dunklen Gewitterwolken ziehen fast alle knapp vorbei, so dass zumindest Trikot und Hose trocknen können. Die Schuhe bleiben bis in die Nacht hinein nass. Eine der härtesten Herausforderungen ist dann die Abfahrt von Frýdštejn. Schlagloch an Schlagloch, die Bremse dauerhaft gezogen und langsamer als bei der Auffahrt taste ich mich die Straße herunter, und hoffe das mein Rad die Schläge aushält. Bei schlimmeren Löchern zieht es stark in den Rücken und unten angekommen bin ich völlig verkrampft und muss die Arme und Hände ausschütteln, schlimmer als die Pavées in Nordfrankreich. Zu meiner Beruhigung hat mein treues Rad alles gut überstanden, so dass ich langsam weiterrollen kann. Zwischenzeitlich rechne ich immer mal kurz nach, und stelle fest, das ich hervorragend in der Zeit bin, und im Hellen die längeren Anstiege auf der ersten Hälfte durchs Riesengebirge schaffen sollte. Irgendwo bei Kilometer 200 verliere ich dann meinen letzten Begleiter und bin fortan alleine unterwegs. Und dann beginnt der Anstieg zum Kontrollpunkt, unten noch gut fahrbar, geht es auf den letzten Kilometern richtig zur Sache.
Auf dem vierten Kilometer gelangt man an eine Kreuzung, an der man sich links hält. Ein kurzes Stück nur fällt die Straße ab bis zum letzten Brücklein über die Čistá und zieht dann mörderisch steil über eine enge Kurve hinauf. Dieses Extremsteilstück hat, wie oben schon erwähnt, eine ähnlich hohe Maximalsteigung wie man sie bei den anderen Kloppern des Riesengebirges antrifft, ist aber zum Glück nur etwa fünfhundert Meter lang.
Quäldich, Pražská bouda




Die erwähnte Maximalsteigung liegt bei etwa 25 % und wird zur Abwechslung nicht nur auf dem Papier erreicht. Mit meiner Übersetzung von 27 zu 36 bin ich zwar richtig gut aufgestellt, aber dort zeiht es mir bei 2,9 km/h auch fast die Beine weg, mehrmals hebt das Vorderrad an den Wasserablaufrillen ab. Max läuft vor mir in Sichtweite den Berg hoch, und ich komme nur wahnsinnig langsam näher. Es ist eine super Erkenntnis, dass man durchs schieben in so steilem Gelände nahezu keine Zeit verliert, und gleichzeitig die Muskeln und den ganzen Körper schonen kann. Ich komme diesmal bis zur Kontrolle ohne abzusteigen, frage mich jedoch ob sich das gelohnt hat. Oben machen wir schnell die Kontrollfotos, um dann nach Pec pod Sněžkou abzufahren. Vorher bekommt Max noch seinen verlorenen Langfingerhandschuh zurück, den ich seit etwa 100 Kilometern mit mir rumtrage und mitten auf der Straße gefunden habe. Er freut sich das er für die Nacht beide Handschuhe beisammen hat, und ich mich über das gute Karma. In Pec beginnt der östliche Loop, mit etwas mehr als 100 Kilometern, bis man wieder hier oben ankommt. Einige Teilnehmende haben hier ein Zimmer gebucht, holen den Schlüssel auf der Hinfahrt ab und können dann Nachts entspannt einchecken, ich habe darauf verzichtet.


Max und Peter wollen noch vernünftig zu Abend essen, ich will in der Dämmerung möglichst noch die zwei weiteren über 1000 Meter hohen Pässe Abfahren, den Lví důl (Löwengrund) und den anschließenden Przełęcz Okraj. Aus Pec heraus biege ich dem Track folgend von der Hauptstraße auf einen kleinen, asphaltierten Waldweg ab, der urplötzlich eine irre Steigung aufweist. Ich hatte vorher bei der Planung auf Komoot schon diesen dunkelroten Abschnitt gesehen, und gehofft das es sich um einen Kartenfehler handelt. Es ist der Moment gekommen um abzusteigen, denke ich, falle dabei fast um und schiebe dann gute 10 Minuten durch den einsamen Wald. Um mich herum ist alles diesig, die Wolken hängen auf der Höhe unserer Strecke und der Blick ist inzwischen gleich null. Ich komme mir sehr einsam und klein vor, ist dies doch noch nicht einmal der Anfang des ersten Anstiegs den ich mir vorher angeschaut habe. Aber irgendwann geht auch dieses Steilstück vorbei und ich kann langsam weiterkurbeln und die folgende Abfahrt genießen. Zum Löwengrund hinauf frage ich mich, wie ich wohl das benötigte Kontrollfoto vom „Schneekoppenblick“ schießen soll, ich sehe gerade so einige hundert Meter weit, und je höher ich komme desto schlechter wird die Sicht. Am Ende sieht das Foto aus als würde ich vor einer schlecht angebrachten Raufasertapete stehen, ich mache mir nicht einmal die Mühe dafür vom Rad zu steigen. Immer weiter geht es hinauf, nur um dann wieder auf kleinen schmalen Wegen im jetzt Dunklen zur Bundesstraße hinabzufahren. Der dort folgende Anstieg zum Przełęcz Okraj ist super angenehm zu fahren, keine steilen Abschnitte und der Asphalt ist hervorragend. Es sind keine Autos mehr unterwegs, oben am Grenzübergang zu Polen angekommen sind nur noch einige Wanderer zu sehen, die gerade von ihren Touren nach Hause kommen. Immerhin regnet es seit einiger Zeit nicht mehr, und die Straße ist fast trocken.




Ich ziehe mir für die folgende lange Abfahrt die Regenjacke drüber und stürze mich ins Dunkel. Hier kann man es richtig laufen lassen, der Garmin zeigt mir die kommenden Serpentinen an, und durch den fehlenden Verkehr kann man fast wie die Profis durch die Kurven jagen und die komplette Strecke ausnutzen. Wie hab ich solche Abfahrten vermisst! Rasend schnell fliegen die Kilometer vorbei, eine Wohltat nach den letzten beiden harten Stunden. Unten angekommen geht es auf eine größere Straße ohne Steigung, die sich gut eignet um die Beine ein bisschen auszuruhen und locker vor sich hinzurollen. Auch hier sind nur noch wenige Autos und LKWs unterwegs, die mit weitem Abstand an mir vorbeifahren, so ist das schön. In Chełmsko Śląskie erreiche ich den örtlichen Späti um 22.50 Uhr, er hat bis 23 Uhr auf. So viel Glück kann ich kaum fassen, springe rein und hole mir Kofola und Cola für die Nacht sowie ein Panini fürs Frühstück. Jetzt beginnen so langsam die Höhenmeter, allerdings rechne ich damit am Kontrollpunkt 5 nach 300 Kilometern ziemlich genau um 0 Uhr anzukommen, was auch klappt. Nach knapp 16 Stunden und 5140 Höhenmetern bin ich also am Umkehrpunkt angekommen. Das bedeutet aber für mich auch, dass ich für den Rückweg 8 Stunden mehr Zeit habe, und somit eine kleine Schlafpause im Bereich des Möglichen liegt.


Erstmal steht jetzt allerdings der lange, aber sanft beginnende Anstieg von Trutnov nach Pec pod Sněžkou an, den ich gerne noch vor der Nachtpause fahren will. Unten in Trutnov folgt der Track einem wunderschönen kleinen Radweg entlang des Flusses Úpa, weit weg von jeglichen Straßen. Aber auch auf der Bundesstraße später ist kaum noch ein Auto zu finden, so dass ich mittig auf dem Flüsterasphalt vor mich den Anstieg hinaufrollen kann. Der einfachere Teil der letzten zwei bis drei Stunden hat dafür gesorgt, dass die Beine wieder ziemlich gut funktionieren, und so mache ich ein bisschen Druck um Pec zu erreichen. Direkt am Ortseingang liegt ein großes Parkhaus, für die vielen Skitouristen im Winter. Draußen sind drei Türen mit riesigen Symbolen, öffentliche Toiletten. Öffentliche Toiletten? Ich bremse und fahre rüber, hoffe dass mich die Kamera nicht zu sehr im Blick hat und rüttle an den Türen. Das WC für die Männer ist zu, die Behindertentoilette jedoch offen und siehe da: Ich passe zusammen mit meinem Fahrrad hinein, sie ist blitzblank sauber, es gibt einen Radiator als Heizung sowie elektrischen Handtrockner, warmes Wasser und genug Platz für die Luftmatratze. Schnell sind die Schlafsachen rausgeholt, die Matratze aufgepustet und der Biwaksack bereit, nur eine frische Unterwäsche vermisse ich doch sehr. Noch kurz am Handy ein bisschen was gelesen um runterzukommen und die Elektronik angeschlossen, falle ich um 2.30 Uhr in den Schlaf, der Wecker steht auf 5 Uhr. Um 4.30 Uhr wache ich von der Kälte auf, die in die Toilette zieht, der Radiator ist nachts scheinbar ausgegangen und lässt sich nicht wieder starten. Ich fühle mich ausreichend munter und fit, packe schnell die Sachen zusammen und ans Rad, fülle die Flaschen auf, und ab geht es in den kühlen Morgen. Pünktlich um 5 Uhr sitze ich wieder auf dem Rad, mit der aufgehenden Sonne im Rücken, bereit um die letzten Höhenmeter zur Lesní bouda zu erfahren. Auch hier zeigt sich das Riesengebirge nochmal von seiner besten Seite, wieder geht es auf über 20 % steilen Stücken auf einem kleinen, holprigen Waldweg bergauf, links und rechts stehen Schneekanonen und kleine Skilifte. Mir ist nach wenigen Metern so warm das ich die Regenjacke verfluche, die ich zum Schutz gegen die morgendliche Kühle angezogen habe. Ich bin so langsam dass der Garmin die Karte nicht mehr vorwärts bewegt, sondern ein Standbild anzeigt, woraufhin ich mich natürlich stracks verfahre. Kurze Zeit später bin ich dann doch oben an der Kontrolle angekommen, gerade als die Sonne über die Baumwipfel kommt und den Nebel in ein magisches Licht hüllt.



Ich mache kurz ein paar Fotos, und bevor es wirklich kalt wird geht es in die folgende Abfahrt. Diese zieht sich gefühlt ewig hin, und enthält immer wieder kleine Gegensteigungen, die die kalten Beine ordentlich fordern. Irgendwann dann die endgültige Abfahrt runter nach Hořejší Vrchlabí, nur um jetzt in den für mich härtesten und am wenigsten zu erinnernden Teil der gesamten Strecke zu gehen. Ein Anstieg nach dem anderen folgt, jeweils 300 – 400 Höhenmeter, und nicht einmal besonders steil. Aber die Vielzahl der Höhenmeter und der Morgen machen mich kaputt, und ganz langsam kämpfe ich mich voran. Es bleibt viel Zeit um drüber nachzudenken was ich hier mache, wo die anderen wohl sind, um die Tiere anzuschauen und dann auf einmal auch die Ausblicke über das Riesengebirge bei bestem Sonnenschein zu genießen. So hart die Strecke hier auch ist, ist sie doch ebenso wunderschön und sehr eindrucksvoll. In einem kleinen Ort steht eine verführerisch aussehende Bank, und da ich seit dem Aufstehen (das sind jetzt auch schon wieder 2000 Höhenmeter her, fällt mir nebenbei auf) nichts gegessen habe, steige ich zum ersten Mal ab um mich in Ruhe hinzusetzen, das Panini auszuwickeln und im Sonnenschein Biss für Biss ohne Hektik zu verspeisen. Andere Fahrer habe ich jetzt seit 250 Kilometer nicht mehr gesehen, und darüber bin ich auch ganz froh. Mein eigenes Tempo fahren zu können, ohne den Stress eines anderen Hinterrads ständig vor sich zu haben, tut wirklich gut, und ist dieses Jahr bei den Brevets leider häufiger zu kurz gekommen. Nach dem das Panini verschwunden ist kommen noch zwei Milchbrötchen aus den Tiefen des Gepäckfachs hinterher, die langen Sachen werden gegen die kurze Montur gewechselt und schon kann es weitergehen. Diese Pause hat richtig gut getan, und auch die Aussicht auf den Wechsel ins Isergebirge motiviert mich zusehends. Die Beine sind jetzt wieder da und so geht es immer weiter Richtung Kontrollpunkt 6, den ich dann auch glatt verpasse. Auf der Karte steht grundsätzlich immer bei welchem Kilometer die nächste Kontrolle kommt, und ich bin mir zu 100% sicher, dass es 426 Kilometer sind. Nur, als ich bei Kilometer 426 anhalte, steht in der App 421 Kilometer und das ich doch 5 Kilometer weit weg bin. In diesem Moment ist mir sofort klar, dass ich jetzt keineswegs zurückfahren werde. Ich mache ein Bild dort wo ich bin, und hoffe das Björn mit GPS Nachweis und alternativem Kontrollfoto Gnade walten lässt. Auf der anderen Seite ist der jetzige Abschnitt durch die Hochmoore des Isergebirges der absolut schönste Teil der gesamten Strecke, es geht fernab von Autos auf meist guten Wegen immer leicht hoch und runter, man hat tolle Blicke auf die umliegende Landschaft und kann das alles sehr genießen.



Im Anschluss folgt die Abfahrt aus dem Hochmoor Richtung Liberec, die mir beinahe zum Verhängnis wird. Die Abfahrt ist schmal, und für Autos gesperrt, und ich ordentlich unterwegs. Auf einmal kommt mir hinter einer Kurve ein SUV entgegen, für Tschechien relativ typisch die Kurve schneidend. Ich habe beide Hände an den Bremsen und das Auto reagiert ebenso schnell und fährt fast in den Graben, dennoch sind es maximal 50 Zentimeter Platz zwischen Auto und der Steinwand. Dazu kommt, dass auf der nassen Straße im Wald mein Hinterreifen blockiert, und ich es nur gerade so schaffe das Rad gerade zu halten. Ich streife mit der Schulter die Seitentür und komme irgendwie ohne Sturz dran vorbei. Das Auto hält an und ein erschrockener Mensch schaut mir hinterher, ich winke nur unter Schock, rolle direkt weiter und versuche die schweren Gedanken (Was wäre wenn) nicht an mich heranzulassen. Erstmal durchatmen. Die weiteren Kilometer bin ich deutlich vorsichtiger unterwegs, und freue mich als ich unten ankomme. Unterwegs sehe ich noch Tobi ein bisschen in der Sonne schlafen, sowie (…) aus Wehlen einen Kaffee trinken und Matthias unten am Supermarkt ein Eis essen. Ich muss erstmal weiterfahren, freue mich aber nicht ganz alleine auf dem Streckenabschnitt unterwegs zu sein.
Die Strecke nach Liberec zieht sich etwas, aber ich gebe mir auch wenig Mühe Druck zu machen, Vor mir sieht man, dass der Jeschken in einer dunklen Regenwand steckt, und kurz vor Liberec erwischt die Front dann auch mich. Ich stehe unter einem Baum und ziehe die komplette Regenmontur an, als Matthias angerollt kommt und mit unter den Baum kriecht. Wir unterhalten uns eine Weile über die Strecke und alles Mögliche, und als der Regen langsam nachlässt geht es weiter.
Ein paar Kilometer rollen wir zusammen, bis ich in Liberec nochmal schnell zur Tankstelle rein will und er schon mal weiterfährt. Ich sehe ihn noch ein paar mal, und freue mich jedes Mal sehr. Die Auffahrt zum Jeschken ist der letzte große Zacken im Höhenprofil: Nach 470 Kilometern und über 8000 Höhenmetern geht es nochmal auf über 1000 Meter hoch. Der von Weitem so eindrucksvolle Gipfel ist heute komplett wolkenverhangen, unten im Anstieg schwitzt man in der Sonne, ab dem Abzweig zur Stichstraße sieht man nichts mehr. Dafür ist er super entspannt zu fahren, für den Anstieg braucht man das kleine Kettenblatt im Prinzip gar nicht, die Höhenmeter verfliegen wie im Flug. Trotz des Wetters sind eine Menge Familien beim Wandern unterwegs, total cool die Tschechen in der Hinsicht. Kurz vor dem Gipfel überhole ich eine Truppe von zwei Mountainbike-Pärchen, die sich den Berg ein bisschen hochquälen und sich riesig freuen, als ich ihnen anbiete ein Foto von allen Vieren zu machen. Im Gegenzug machen sie auch mein Kontrollfoto, auf dem zumindest das Schild zu sehen ist und ich werde aufgefordert doch ein bisschen zu lächeln, na gut. Das markante Hotel auf der Spitze versteckt sich hingegen im Nebel, und kommt nur bei einer starken Böe ein kleines bisschen zum Vorschein. Ich überlege nicht lange und stürze mich in die Abfahrt, um wieder aus den Wolken in den Sonnenschein zu gelangen. In Gedanken bin ich schon fast im Ziel, jetzt nachdem der letzte kategorisierte Anstieg geschafft ist. Die Abfahrt auf nagelneuem Asphalt und herrlichen Serpentinen macht riesigen Spaß, die Straße ist trocken und kaum ein Auto ist unterwegs.



Unten geht es dann einige Kilometer flach bis leicht abfallend durchs Tal nach Křižany und weiter Richtung Ziel. Natürlich ist es nicht wirklich flach, immer noch sind gut 1500 Höhenmeter auf dem letzten Abschnitt zu bewältigen, aber der Anteil der gut rollenden Kilometer ist deutlich höher als zuvor. Ich rechne aus dass ich kurz nach 19 Uhr im Ziel sein könnte, was deutlich vor meiner anvisierten Zeit wäre, aber der Wettergott hat dann doch andere Pläne für uns. Nachdem wir den Schauer am Jested einigermaßen umgangen haben ziehen 60 Kilometer vor dem Ziel üble Gewitterfronten auf, denen ich nicht auf offener Straße begegnen will. Ich fahre von einem Dorf zum nächsten, und überlege die ganze Zeit, wann ich mir einen Unterstand suchen soll. Am Ortseingang von Mikulášovice steht dann die erhoffte, aus massivem Stein gebaute Bushaltestelle, in die ich gerade noch rechtzeitig reinschlüpfe. Kurz darauf beginnt es zu Blitzen und zu Donnern wie schon lange nicht mehr, inklusive heftiger Regenfälle, so dass die Straße in kürzester Zeit überflutet ist. Das Regenradar zeigt an, das drei Gewitter hier kurz nacheinander durchziehen werden, also mache ich es mir auf der Bank bequem, ziehe die warmen Sachen an und schlafe noch eine Stunde mehr oder weniger fest.
Zwischendurch kommt Matthias vorbei, er hat keine Regenhose dabei und ist völlig durchnässt, und tut das einzig richtige: Weiterfahren. Ich glaube hätte er angehalten wäre er nicht mehr weitergefahren, die Bewegung hält in solchen Situationen als einziges warm. Als die Gewitter durch sind und die Sonne wieder rauskommt fahre auch ich weiter, ohne Regensachen und jetzt endlich in Kurz-Kurz. Es sind noch 50 Kilometer auf deutschen Straßen, die Sonne scheint und die dunklen Wolken ziehen alle weit an mir vorbei, bieten dabei jedoch ein tolles Schauspiel am Horizont. Ich will nicht nochmal ins Dunkle fahren und so gebe ich an den letzten Anstiegen ordentlich Gas, nach der Pause sind die Beine wieder richtig gut dabei und es macht Spaß Richtung Ziel zu „knallen“. Ich weiß natürlich auch, dass die letzten Kilometer deutlich mehr bergab als bergauf gehen, was nochmal die Motivation puscht. Einmal verfahre ich mich noch in Pirna, mache ein Foto vom Sonnenuntergang an der Elbe und bin dann nach 36 Stunden und 45 Minuten zurück an der Radrennbahn. Dort schiebt gerade ein älterer Mann das Fahrrad von Matthias die Rampe runter, ich glaube so alt kann er doch nicht geworden sein… es ist sein Vater, der ihn abholt. Er macht noch das letzte Kontrollfoto für mich, so dass ich auch „offiziell“ angekommen bin. Oben sitzen schon einige der Randonneure und Randonneurinnen und lassen es sich gutgehen, ich bekomme sofort einen Teller heiße Soljanka von Björns Freundin, die uns extrem lieb bewirtet und sich kümmert das es allen die noch nach und nach eintrudeln gut geht.




Ich erfahre, dass nicht sehr viele Teilnehmende die Strecke komplett absolviert haben, manche aufgrund des Wetters, andere aufgrund anderer Umstände. Ganz langsam sickert die Erkenntnis durch, dass ich tatsächlich angekommen bin. Nach der langen Zeit alleine mit sich selbst genieße ich die Runde in der wir im Sportlerheim sitzen. Die anderen erzählen von ihren Erlebnissen, von zukünftigen Plänen, von diesen und jenen Themen. Ich sitze meist still dabei, esse Suppe und Nudeln, trinke das von Michael versprochene Bier, und freue mich einfach über die Stimmung. Bis ein Uhr sitzen wir noch und erzählen, so lange war ich nach einem 600er noch nie wach und ansprechbar. Zwischendurch natürlich schnell duschen und die wirklich ekligen Klamotten loswerden, sowie schon einmal die Luftmatratze in der Turnhalle aufblasen. Eigene Gedanken kommen mir an diesem Abend nicht mehr, ich freue mich mit Tobias, der kurz nach mir ankommt und dann direkt mit dem Zug über Leipzig nach Berlin weiterwill, über Stepane und seinen tschechischen Freund, über Rico und Wehlen, und und und. Am Ende füllen wir die Kofola aus dem Fass noch in die Trinkflasche für den nächsten Tag, und dann falle ich in einen langen und traumlosen Schlaf. Erst um 10 Uhr am nächsten Morgen räume ich meine Sachen und das Auto ein, und mache mich wieder auf den Weg nach Hause. Kaum zu glauben dass gerade einmal zweieinhalb Tage seit der chaotischen Anreise vergangen sind.
Im Nachhinein bleiben von der Tour vor allem einige kleinere Erkenntnisse übrig, die große Erleuchtung gab es auch diesmal naturgemäß nicht. Vor allem, dass ich mich auf dem Rad auch alleine unfassbar wohl fühle, und nur mit wenigen Menschen wirklich lange Strecken zusammenfahren mag und kann, aber mich immer wieder über kurze Begegnungen unterwegs freue. Dass der Körper und der Kopf eine total geile Maschine sind, wenn man sie nur machen lässt. Das manche Barrieren, wie die Angst vor dem Start, nur im Kopf existieren und man sie irgendwie überwinden muss, damit das Gefühl im Anschluss umso besser ist. Und natürlich ist Radfahren für mich auch immer die Flucht aus dem „normalen“ Leben, der Gesellschaft, dem Alltag, den Problemen der Welt. Wenn man so viele Stunden bei allen Bedingungen auf dem Rad sitzt, dann denkt man nicht mehr an die großen Krisen auf unserem Planeten, sondern nur noch an die nächsten Kilometer, die Landschaft, das Wetter, die nächste Mahlzeit. Einen besseren Erholungsurlaub für den Kopf kann es für mich kaum geben.
Wer bis hierhin gelesen und durchgehalten hat: Danke dafür, und für die vielen Kommentare während und nach dem Brevet. Auch wenn ich nicht auf alles antworten kann freue ich mich doch über jeden Einzelnen davon! Falls Fragen bestehen immer her damit, ansonsten sehen wir uns irgendwo draußen „on the Road“. Euer Ole.
Wenn ich nicht wüsste, dass du mein Sohn bist, würde ich mich erschrecken, wie sehr deine Gedanken doch meinen gleichen.
Hast du gut geschrieben und sehr gut den Brevets absolviert! Dein Vater.
Ach, Riesen- und Isergebirge… ❤️ Danke für den Bericht!
Ole, Deine kleinen Erkenntnisse am Ende sind wieder überragend ;-).
Ich freue mich immer über deine schönen und kurzweiligen Berichte. Bleib wie du bist! Volker
Das ist wieder einmal ein toller Bericht und tolle Bilder. Man fühlt sich fast ein bißchen wie dabei. Ein bißchen froh diesmal nicht gestartet zu sein bin ich aber auch.